Extraleben
Gewissen im Hinterkopf, so, als ob man sich bei einem alten Freund nicht mehr meldet, obwohl der treu Weihnachtskarten schreibt. Bei Hydro Thunder bleiben wir stecken, einem Bootsrenn- Simulator, dessen knallblauer Plastiksitz uns schon beim Reinkommen ins Auge gebrüllt hat. Unaufdringlich ist anders. Nachdem wir uns eine halbe Minute über die eklige Autoscooter -Optik aufgeregt haben, steigen wir ein und haben einen Heidenspaß. Die 3D-Wasseroberfläche ist super gerendert, es gibt geniale Schanzen, von denen aus man 100-Meter-Sprünge starten kann, und - spätestens da hatten sie uns im Sack - einen Turboknopf . Als ich ihn zum ersten Mal drücke, entfährt mir ein »Yiehaaah«, und Nick fängt von der Seite an zu drängeln, weil er auch spielen will. Er reiht seine ganzen 25-Cent-Münzen neben dem Bildschirm auf, was nach guter alter Spielhallen-Etikette ungefähr so viel bedeutet wie: Mach endlich Schluss, du Idiot! Nach einer Viertelstunde gehen mir die Quarter aus, und ich muss das Feld räumen. »Da hätten wir uns früher auch nicht reingesetzt«, sagt Nick, während er mich ungeduldig aus dem Cockpit rausschubst. »In der Tat.« Zu den guten Dingen in unserem Alter gehört, dass die panische Angst davor, irgendwie peinlich zu wirken, der Gewissheit gewichen ist, es ohnehin zu sein. Das befreit ungemein. Als Teenager konnte ich nie verstehen, dass meine Eltern im Ferienclub ohne Not beim Clubtanz mitmachten. Ich dachte nur: Merken die denn nicht, wie total peinlich sie sind? Heute weiß ich: Sie haben es gemerkt, und es war ihnen völlig egal. Eingesehen zu haben, dass alle Coolheitsanstrengungen eigentlich nichts bringen, macht den Weg frei für schöne Dinge wie Karaoke - wenn es sein muss, sogar nüchtern. Das haben wir natürlich früher nicht so gelassen gesehen, vor allem in unserer Merkur-Phase Anfang der Neunziger: Da hatten wir den Führerschein gerade in der Tasche, Nick fuhr schon einen eigenen Wagen, die Welt stand uns offen. Und was haben wir aus der neuen Freiheit gemacht? Wir fuhren mit unseren weiblichen Eroberungen zur Spielothek in der Stadt. Wir nahmen ernsthaft 30 Minuten Gezuckel über die Landstraße in Kauf, nur um im Toilettensteinmief zu stehen und Prinzenrolle aus dem Automaten zu essen. Unfassbar. Noch heute frage ich mich, warum sich die Mädels nicht sofort abgeseilt haben. Wenn wir wenigstens Billard gespielt hätten, das wäre ja noch halbwegs cool gewesen! Aber nein, die Ladies mussten sich mit ihren ausgeschnittenen Bodys und engen Leggings von den Profidaddlern begaffen lassen, während wir stundenlang vor den Videospielen rumhingen. Nun muss man ehrlicherweise sagen, dass Zocken am Arcade- Automaten per se peinlich ist. Oder sieht man Harley Davidson und den Marlboro-Mann jemals dabei, wie sie Mrs. Pac-Man spielen? Nein, die sind nämlich lieber cool und tot, als uncool und lebendig. Diese leicht gebückte Haltung, der spastisch umkrampfte Joystick, das zittrige Hämmern auf den Feuerknopf - das sieht doch alles ein wenig zu sehr nach Masturbation aus. Die bittere Wahrheit ist: In puncto Coolheit steht man in einer Spielhalle auf verlorenem Posten; da bleibt einem nur übrig, die Peinlichkeit irgendwie einzudämmen. Deshalb lautete unsere oberste Regel schon immer: so wenig bewegen wie möglich. Hätte es ein Spiel mit Gedankensteuerung gegeben - unser letzter Heiermann wäre hineingewandert. Leider arbeitete der Zeitgeist damals gegen uns. Die ersten Leute hatten 16-Bit-Konsolen wie den Sega Mega Drive zuhause stehen und keine Lust mehr, für die gleichen Games in der Spielhalle eine Mark einzuwerfen. Im Rennen um die meiste Rechenpower waren Heimgeräte längst an die Profikisten herangekommen. Deshalb zogen die Hersteller der Arcadespiele ihre letzte Trumpfkarte: die Controller. Kein Mensch stellt sich einen Snowboardsimulator in seine Bude; niemand verschandelt sich die Einrichtung mit zwei Autositzen wie bei Cruis'n USA , von einem kompletten Afterburner -Cockpit mal ganz zu schweigen. Das wussten die Segas, Namcos und Ataris - und handelten: Fast monatlich schickten sie neue Monster in unsere Merkur-Spielothek, eines aufwändiger, riesiger - und leider auch cooler - als das andere. Schnell waren wir gezwungen, unsere Regel aufzuweichen: Ab sofort verweigerten wir uns nur noch Games, bei denen der Spieler irgendwie hydraulisch durch- geschüttelt wurde, wie beim Motorradsimulator Hang-on , wo der Sitz hin- und herkippte. Darüber, eine VR-Brille aufzusetzen, dachten
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