Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Extraleben

Extraleben

Titel: Extraleben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Constantin Gillies
Vom Netzwerk:
kinderbadewannenwarmen Dosen auf unser Zimmer zusteuere, steht die Tür offen. Ich schaue mich um und sehe im Halbdunkel, wie Nick in einem Liegestuhl neben dem leeren Pool sitzt und telefoniert. Wie ein Glühwürmchen tanzt das Display seines Telefons durch die Dunkelheit. Komisch, bislang galt auf unseren Trips eigentlich immer ein unausgesprochenes Telefonierverbot. Zwischenzeitlich hatten wir sogar mal einen Strafdollar eingeführt für Gesprächsthemen, die mit Zuhause zu tun haben, um uns 100 Prozent auf die Sprache der Straße konzentrieren zu können: Wer Freundin, Eltern, deutsche Politiker oder sonst was erwähnte, musste zahlen. Na ja, er wird schon einen guten Grund haben. Als Nick zehn Minuten später reinkommt, wirkt er irgendwie unkonzentriert, fahrig. »Ist was?«, frage ich. Nick schmeißt sich aufs Bett. Das Knarren der Federn und die röhrende Klimaanlage schlucken seine Antwort, aus der ich nur das Wort »Familie« heraushören kann. War wohl nichts Wichtiges. Da ich im Moment definitiv nichts tun kann, schalte ich den Fernseher ein - und gleich wieder aus, denn, das hatte ich ganz vergessen, es läuft ja nichts. Wenn ich jetzt wählen könnte, würde ich mir »Bullit« mit Steve McQueen wünschen. Stattdessen blättere ich eine alte Ausgabe der »Palo Verde Valley Times« durch, in der unter anderem zu lesen ist, dass der Besitzer einer Achterbahn auf irgendeinem County Fair zu Tode kam, als er mit seinem Bart in das Fahrgestell der Bahn geriet und fast 100 Meter mitgeschleift wurde. Nach einer halben Stunde dumpfen Brütens vor dem Rechner meldet sich Nick wieder zu Wort: »So: Wir haben zwei Fehler gemacht. Erstens braucht die Maschine einen Bootstrap-Loader, und zweitens dachten wir, die Daten auf dem Lochstreifen seien in ASCII codiert. Doch die Mainframes von Digital waren für den Betrieb mit einer Telexmaschine ausgelegt, die einen anderen Code verwendet. Lässt sich aber einfach umrechnen: Teletype minus 200 gleich ASCII.« Ich mache mir nicht die Mühe, eine Erklärung abzurufen. »Und?« »Auf dem Band hat jemand, wenig überraschend, ein Spiel gespeichert, und zwar Moonlander - exakt wie es Anfang der Siebziger auf einem PDP-11 mit GT40-Vectordisplay gelaufen ist. Scheint im Großen und Ganzen mit Lunar Lander von Atari identisch zu sein. Nicht gerade Splinter Cell, also.« Den echten Retromanen erkennt man daran, dass selbst die Referenzgrößen von gestern sind. Mit der längst zum Ritual gewordenen Bewegung dreht Nick den Monitor zu mir um, allerdings klingt der imaginäre Trommelwirbel schon etwas müde. Er hat das Programm auf dem Lochstreifen also tatsächlich ans Laufen gekriegt. Quer über den schwarzen Bildschirm zieht sich eine feine weiße Linie, wie eine Herzkurve. Sie zeichnet einen kleinen Hügel nach, dann einen gewaltigen Gipfel, gefolgt von zwei kleinen Spitzen, die in eine Ebene übergehen. Am oberen Monitorrand schwebt eine kleine Mond-Landefähre, die mit ihren dünnen Beinchen wie eine Spinne aussieht. Daneben stehen Zahlenkolonnen und Worte wie FUEL und DISTANCE. Kein Wunder, dass wir keinen Text gefunden haben: Da das Spiel Vektorgrafik benutzt, existiert Schrift nur als Haufen von X/V-Koordinaten. Moonlander - da haben die Herren von der Datacorp ihre nächste Botschaft ja in einem echtem Klassiker aus der optimistischen Astro-Ära versteckt. Und auch die Hardware, auf dem das Spiel mal lief, könnte ganz gut in das Rechenzentrum der NASA passen: ein alter Großrechner, wie er lange Zeit nur bei Banken, Versicherungen und Behörden im Keller stand. Gegen diesen Dinosaurier waren unsere Atari-Konsolen die reinsten Amöben. Nick zeigt mir im Netz ein Bild, auf dem die monströse Maschine abgebildet ist: ein Gigant, mindestens so hoch wie das höchste Billy-Regal von Ikea. Wer sich dem Monster entgegenstellt, dem streckt es eine abweisende schwarze Frontplatte und zwei Bandlaufwerke entgegen. Schalter in psychedelischem Orange und Violett reihen sich am Sockel auf. in den gleichen Farben prangt ein Firmenlogo am Kopf der Maschine: |d|i|g|i|t|a|l. Jeder Zentimeter dieses Giganten scheint nur eines zu sagen: Finger weg! Kein Knuddel-Design wie bei den iMacs der Neunzigerjahre biedert sich an, kein quietschbuntes User Interface lädt zum Probieren ein. Was hier steht, ist ein Werkzeug, genau wie eine Schrottpresse oder ein Partikelbeschleuniger, so lautet die Ansage. Und wie verkauft man so eine gewaltige Masse Vernunft, so viel industrielle Strenge? Mit einem Spiel

Weitere Kostenlose Bücher