Extrem: Die Macht des Willens (German Edition)
über diesen Satz nachgedacht? Der entscheidende Aspekt dabei ist: Es geht in unserem Leben nicht darum, ein großes Ziel zu erreichen, um danach glücklich sein zu können. Viel wichtiger ist es, auf dem Weg zu seinem Ziel, also vor dem eigentlichen Ziel, glücklich zu sein. Diese Zeilen schreibe ich nicht einfach so, weil ich es irgendwo gelesen oder gehört habe, sondern weil ich es erst am eigenen Leib erfahren musste.
Im Mai 2007 nehme ich beim Internationalen IsarRun teil, einem Mehrtageslauf von der Quelle bis zur Mündung der Isar. 333 Kilometer in fünf Tagen gilt es dabei zu bewältigen. Man läuft also an fünf aufeinanderfolgenden Tagen im Schnitt einen Ultramarathon von über sechzig Kilometern. Für mich ist es der erste Etappenlauf überhaupt. Bis zu diesem Zeitpunkt habe ich nur acht Läufe, die länger als die Marathondistanz waren, bestritten. Und jetzt soll ich bei diesem Rennen fünf Ultras kurz hintereinander laufen. Insgesamt nehmen nur 53 Athleten am Abenteuer IsarRun teil. Die Strecke führt von Plattling in Niederbayern über Dingolfing, Freising, Wolfratshausen, Fall nach Scharnitz am Fuße des Karwendelgebirges. Bei solch einem langen Lauf über mehrere Tage durchlebt man fast immer mehrere Hochs und Tiefs. So ist es auch bei mir gewesen. Am Ende der zweiten Etappe komme ich nach 75 gelaufenen Kilometern völlig platt ins Ziel und bin einfach nur fertig mit der Welt. Meine Oberschenkelmuskulatur fühlt sich steinhart an und im Kopf bin ich so müde, als ob ich seit einer Woche nicht mehr geschlafen hätte. Meine Waden sind von permanenten Krämpfen geplagt. Jeder Schritt eine einzige Qual. Vor lauter Schmerzen bin ich nur imstande, die Treppen rückwärts hinunterzulaufen. Selbst meine fast 90-jährige Oma wäre in diesem Moment sicherlich schneller die Treppen hinuntergekommen. Wie soll ich morgen bloß wieder über siebzig Kilometer laufen? Und am nächsten Tag wieder sechzig? Und dann wieder sechzig? Nach dem gemeinsamen Abendessen gehe ich zu Bett und falle sofort in einen tiefen, festen Schlaf. An nächsten Morgen fühlen sich meine Muskeln nicht wirklich erholt an. Als ob meine gesamte Muskulatur eingerostet ist, krabble ich aus meinem Bett und brauche ein wenig Zeit, bis ich auf beiden Beinen aufrecht stehen kann. Ich humple mehr als ich laufe zum Start der dritten Etappe. Doch das Entscheidende dabei ist: Mein Kopf ist zu einhundert Prozent fit! Meine Gedanken sind immer nur auf das Gesamtziel dieses Rennens gerichtet. Ich bin mir absolut sicher, dass ich durchkomme und das Ziel erreiche. Ich weiß nur noch nicht, wie . Als der Startschuss ertönt, gehe ich die ersten hundert Meter und befinde mich schnell auf dem letzten Platz im Läuferfeld. Nach dem ersten Kilometer, nach über zehn Minuten fange ich zum ersten Mal ganz langsam an, in ein gemächliches Lauftempo überzuwechseln. Was für eine Überwindung! Ich habe das Gefühl, dass zehn Schweinehunde gleichzeitig in mir sitzen und schreien: „Bleibe doch in deinem Gehtempo oder höre ganz auf. Das ist viel bequemer.“ Doch ich fokussiere stattdessen auf das Ziel in Scharnitz und stelle mir meinen Zieleinlauf vor: Wie ich mit ausgestreckten Armen über die Ziellinie laufe. Wie ich meine Medaille überreicht bekomme. Wie ich freudestrahlend bei herrlichem Wetter mein erstes Weißbier nach dem Lauf zu mir nehme. Wieder, wieder und immer wieder gehen mir diese Gedanken durch den Kopf. Und dann passiert etwas Unglaubliches: Ich vergesse meine muskulären Beschwerden und laufe einen Kilometer nach dem anderen. Nach zehn Kilometern überhole ich den ersten Läufer und dann den nächsten. Und ich schaffe es, nicht nur die heutige Etappe über 73 Kilometer erfolgreich zu beenden, sondern auch das gesamte Rennen zu finishen. Nach fast 45 Stunden Gesamtlaufzeit laufe ich bei strahlendem Sonnenschein und blauem Himmel über die Ziellinie in Scharnitz.
Nach all den Strapazen der vergangenen Tage, nach unzähligen Hochs und Tiefs, nach Monaten der Vorbereitung, nach Hunderten Stunden an Training, nach insgesamt 333 Kilometern bin ich nun endlich am Ziel meiner Träume. Die letzten Tage, Wochen und Monate habe ich immer nur auf diesen einen Moment hingearbeitet. Und nun ist er endlich da. Ich habe es tatsächlich geschafft und mein großes Ziel erreicht. Jetzt müsste ich eigentlich unendlich glücklich sein, oder? Doch die Glücksmomente halten nur einige Minuten an. Diesen Moment habe ich mir ganz anders vorgestellt. Viel
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