Extrem: Die Macht des Willens (German Edition)
Wassers kann ich ausmachen. Seit Stunden erlebe ich dieses einseitige und trostlose Szenario. Fast roboterhaft spule ich einen Kilometer nach dem anderen ab. Meinen Blick habe ich stur immer nur auf den grauen Schotterbelag gerichtet. Bilder von meinem Lauf am Mont Blanc schießen mir durch den Kopf. Die majestätischen Gipfel der Viertausender, die imposanten Gletscher und die atemberaubenden Farbnuancen, die der eindrucksvolle Sonnenuntergang auf das Gestein zaubert, laufen wie ein Film in mir ab. Was für eine traumhafte und beeindruckende Landschaft. Das genaue Gegenteil von hier. Wie gerne wäre ich jetzt am Mont Blanc, denke ich mir. Plötzlich taucht wie aus dem Nichts ein Verpflegungspunkt auf, einer von neun während des Rennens. „How are you?“, fragt mich einer von den insgesamt sechs Betreuern an diesem Checkpoint. Ich halte kurz an, esse einen großen Teller Pasta, fülle meine Trinkblase auf und laufe dann weiter. Danach geht der breite Wanderweg in einen matschigen Trampelpfad über. Doch das ist auch schon alles, was sich ändert. Hatton, Warwick, Stockton und Braunston, so lauten die nächsten Streckenabschnitte. Dann bricht die Nacht herein, die das ganze Szenario noch unheimlicher erscheinen lässt. Doch so monoton und einsam der Streckenparcours auch ist, so sehr genieße ich es, alleine unterwegs zu sein. Genau diese Einfachheit, diese Monotonie und das „Alleineunterwegssein“ haben mich zur Teilnahme an diesem Lauf motiviert. Auch und besonders in der Nacht. Einfach nur laufen zu können und an nichts anderes denken zu müssen. Keine brutalen Anstiege, die dich aus deinem Laufrhythmus reißen. Keine waghalsigen Bergabpassagen, die allerhöchste Konzentration erfordern. Keine Fokussierung auf Kilometerangaben und Streckenmarkierungen. Nein, einfach nur in der Ebene laufen und das Hirn ausschalten, − das tut gut. „Westend Girls“ von den Pet Shop Boys kommt mir in den Sinn. Im Takt dieses Songs bewege ich mich Schritt für Schritt vorwärts. Alles ganz natürlich. Alles wie selbstverständlich. Dieser immer gleichbleibende Laufrhythmus erzeugt in mir ein Gefühl der Zufriedenheit. Ich bin froh, hier am Kanal entlanglaufen zu dürfen. Dass meine Beine mittlerweile schwer wie Blei geworden sind, nehme ich nicht mehr wahr. Dass meine Füße infolge von Blasen schmerzen, ignoriere ich. Dass ich inzwischen todmüde bin, verdränge ich. Ich summe immer noch die Melodie von „Westend Girls“ vor mich hin. Auf diese Weise vergeht Stunde um Stunde.
Nach insgesamt 40 Stunden und 56 Minuten erreiche ich das Ziel in London. Doch so lange und monoton die Strecke auch gewesen ist, man konnte sich eigentlich fast nicht verlaufen, denn es ging ja immer nur einen Weg entlang. Der englische Veranstalter wollte die Streckenführung noch sicherer gestalten und hat die gesamte Strecke von Birmingham bis London sehr genau beschrieben und als einzelne Karten ausgegeben. Eine Karte zeigte immer einen Ausschnitt von fünf Meilen. Das Rennen ging über 145 Meilen, es gab also insgesamt dreißig solcher Karten. Auf jeder Karte war jede Brücke und jeder Verpflegungspunkt einzeln markiert und genau beschrieben. Ich habe für jeden Streckenabschnitt, für jedes Detail eine genaue schriftliche Anleitung auf dem Weg zum Ziel bekommen. Ich musste im Endeffekt nur noch laufen.
Warum erzähle ich Ihnen das alles so genau? Weil nur die wenigsten Menschen solch eine schriftliche Anleitung für ihr eigenes Leben haben. Weil nur die allerwenigsten Menschen eine genaue Lebensplanung und eine konkrete Zieldefinition erstellen. Was bei einem Lauf wie in England eine Selbstverständlichkeit ist, wird für so etwas elementar Wichtiges wie unser Leben häufig vernachlässigt. Statistiken zeigen nämlich, dass nur vier Prozent aller Menschen in den westlichen Industrienationen ihre Ziele tatsächlich notieren. Warum ist das so? Warum halten nur die allerwenigsten Menschen ihre Ziele schriftlich fest? Die meisten glauben, sie hätten schon Ziele. Dabei handelt es sich meistens „nur“ um gute Vorsätze, um fromme Wünsche oder um irgendwelche Träume. Unser Gehirn benötigt jedoch Fakten und Zahlen, um entsprechende Befehle zu senden. Solange unser Gehirn nicht konkret weiß, was es tun muss, wird es überhaupt nichts tun. Unser Gehirn benötigt eine schriftliche Anleitung, um konkret zu wissen, was es als Nächstes zu tun hat. Und diese Anleitung geben wir ihm, wenn wir ihm unsere Ziele schriftlich mitteilen. Was wir nur
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