Extrem: Die Macht des Willens (German Edition)
intensiver, viel euphorischer, viel länger. Das soll schon alles gewesen sein? Ich habe all die Monate vor dem Lauf und auch auf jeder Etappe bei dem Rennen immer nur auf diesen einen Moment fokussiert: den Zieleinlauf. Wie wird es wohl sein, wenn ich endlich im Ziel bin? „Wenn ich erst einmal im Ziel bin, dann wird alles gut“, so lautete wohl mein Motto. Dabei habe ich die unzähligen Ereignisse und wunderschönen Erlebnisse auf dem Weg dorthin nur selten bewusst wahrgenommen und genossen. Wenn ich beispielsweise abends nach einer Etappe gemütlich mit den anderen Läufern zusammensaß, interessante Menschen kennenlernte und tolle Gespräche führte, dann dachte ich immer: „Du musst gleich ins Bett, damit du genügend Schlaf für die morgige Etappe hast und das Ziel erreichst.“ Wenn ich auf einer Etappe an saftig grünen Wiesen und tiefblauen Bergseen vorbeilief und die schneebedeckten Berggipfel des Karwendelgebirges erleben durfte, da war ich in Gedanken schon im Ziel. Ich hatte für die traumhafte Landschaft um mich herum keine Augen, sondern war nur auf den Moment, der erst sehr viel später eintraf, fokussiert. Auch als ich die schwierige Etappe am dritten Tag über 73 Kilometer mit Bravours meisterte, konnte ich diesen Augenblick nicht so recht genießen. Ich dachte viel mehr: „Hoffentlich hat sich mein Körper bis morgen zur nächsten Etappe wieder regeneriert, damit ich weiterlaufen kann.“
Natürlich war und ist es weiterhin meine Intention, jeweils das Ziel bei einem Rennen zu erreichen. Keine Frage. Doch was ich seit dem IsarRun gelernt habe, ist, die Ereignisse auf dem Weg zum großen Ziel ebenfalls zu genießen. Das geht schon Monate oder teilweise Jahre vor dem Ziel, vor dem eigentlichen Lauf los. Schon im Training achte ich auf Kleinigkeiten. Wenn ich an einem trüben und kalten Januartag einen Dauerlauf über 25 Kilometer unternehme und sich plötzlich die Sonne für nur einen kurzen Augeblick zeigt und mir meine kalte, rot angelaufene Nase ein wenig wärmt. Wenn ich früh morgens knirschend durch Neuschnee laufen darf. Wenn ich nach einer langen Vortragsreise abends laufe und alles um mich herum vergesse. Wenn ich bei einem Berglauf nach stundenlangem mühsamen Anstieg endlich den Gipfel erreiche und die prächtige, atemberaubende Bergwelt um mich herum erleben darf. Genau das sind solche Ereignisse. Dann bleibe ich heute für nur einen kurzen Augenblick stehen und sage mir: „Wow, was für ein geiler Moment!“ Ich habe gelernt, meine Sinne für solche besonderen kleinen Momente zu schärfen, und warte nicht mehr nur ab, bis ich endlich am großen Ziel bin. Nicht der große Zieleinlauf ist das Entscheidende, sondern die vielen kleinen, unscheinbaren Ereignisse auf dem Weg dorthin.
Unser Gehirn braucht einen Schreibstift
Meine längste am Stück gelaufene Strecke bisher ist 145 Meilen, also 232 Kilometer, gewesen. Das sind fünf ausgewachsene Marathonläufe plus einen Halbmarathon − am Stück! Diese Distanz lief ich im Mai 2009 beim Grand Union Canal Race in England. Bei diesem Rennen startet man im Zentrum von Birmingham und läuft dann nonstop, innerhalb von 45 Stunden, nach London. Dabei darf man während des Rennens nicht länger als vierzig Minuten an einem Punkt pausieren, sonst wird man disqualifiziert. Von den gestarteten 86 Läufern sollen am Ende nur 34 das Ziel erreichen. Die unglaublich lange Distanz von 232 Kilometern bedeutet für mich eine ungemein große Herausforderung und eine absolute Grenzerfahrung. Vor allem auch vor dem Hintergrund, dass diese Strecke immer nur einen einzigen Weg entlangführt: den Grand Union Canal. Weit über 200 Kilometer ohne große Abwechslung immer nur auf demselben Pfad entlangzulaufen, erfordert vor allem mentale Stärke und eine enorme Willenskraft.
Auf einem breiten Schotterweg geht es, vorbei an verlassenen Weideflächen und weiten Feldern immer den Kanalweg entlang. Einsame Wohnsiedlungen und heruntergekommene Fabrikhallen kann ich in der Ferne ausmachen. Rechts von mir schimmert das trübe Wasser, das den endlos erscheinenden Kanal entlangfließt. So weit ich auch schaue: Ich sehe immer nur diesen Kanal. Ab und an passiere ich imposante und komfortabel eingerichtete Boote, die meist still am Rande des Kanals auf ihre Besitzer warten. Wie tot! Eine gespenstische Stille umgibt mich. Keine Stimmen weit und breit. Keine Menschenseele. Ich befinde mich irgendwo in der Mitte des Läuferfeldes. Nur das sanfte Rauschen des
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