Extrem laut und unglaublich nah
vermutlich hatte sie ihre Lebensgeschichte sich selbst gewidmet, »Bedeutet es dir alles?«, fragte sie und legte diesmal ihren Finger auf das, was nicht da war, ich berührte sie mit der linken Hand, vermutlich hatte sie ihre Lebensgeschichte mir gewidmet. Ich sagte ihr, ich müsse los. Mit vielen Gesten, die kein anderer Mensch verstanden hätte, fragte ich sie, ob sie etwas Besonders wolle. »Du bringst immer das Richtige mit«, sagte sie. »Ein paar Naturzeitschriften?« (Ich bewegte ihre Hände wie Flügel.) »Das wäre schön.« »Vielleicht etwas mit Kunst?« (Ich bewegte ihre Hand wie einen Pinsel und malte ein unsichtbares Bild vor uns.) »Gern.« Sie brachte mich wie immer zur Tür, »Kann sein, dass ich nicht zurück bin, bevor du einschläfst«, sagte ich zu ihr, legte ihr zuerst eine Hand auf die Schulter und dann ganz sanft auf die Wange. Sie sagte: »Aber ohne dich kann ich nicht einschlafen.« Ich drückte mir ihre Hände an den Kopf und nickte ihr ermutigend zu, wir suchten uns einen Etwas-Weg zur Tür. »Und was, wenn ich nicht ohne dich einschlafen kann?« Ich drückte mir ihre Hände an den Kopf und nickte, »Ja, was wäre dann?«, nickte ich, »Sag du mir, was dann wäre«, sagte sie, ich zuckte mit den Schultern, »Versprich mir, dass du gut auf dich aufpasst«, sagte sie und zog mir die Kapuze meines Mantels über den Kopf, »Versprich mir, dass du besonders gut auf dich aufpasst. Ich weiß, dass du nach links und nach rechts schaust, bevor du über die Straße gehst, aber ich möchte, dass du zweimal in beide Richtungen schaust, ich bitte dich darum.« Ich nickte. Sie fragte: »Hast du dich eingecremt?« Ich ließ sie durch Gesten wissen: »Draußen ist es kalt. Du bist erkältet.«
Sie fragte: »Ja, aber hast du dich eingecremt?« Zu meiner Überraschung berührte ich sie mit der rechten Hand. Ich konnte zwar eine Lüge leben, aber diese kleine Lüge war mir zu viel. Sie sagte: »Warte«, und rannte in die Wohnung und kam mit einer Tube Sonnencreme zurück. Sie drückte sich einen Klecks auf die Hand, verrieb ihn zwischen ihren Händen und verteilte die Creme auf meinem Nacken und auf meinen Handrücken und zwischen meinen Fingern und auf meiner Nase und auf meiner Stirn und auf den Wangen und auf dem Kinn, auf allem, was entblößt war, jetzt, am Schluss, war ich der Ton, und sie war die Bildhauerin, ich dachte: Furchtbar, dass wir leben müssen, aber tragisch, dass wir nur ein Leben haben, denn wenn ich zwei Leben gehabt hätte, hätte ich eines davon mit ihr verbracht. Ich wäre mit ihr in der Wohnung geblieben, hätte den Grundriss von der Tür genommen, hätte sie aufs Bett gedrückt, hätte gesagt: »Ich hätte gern zwei Brötchen«, hätte gesungen: »Sag es allen weiter«, hätte gelacht: »Ha, ha, ha!«, hätte geschrien: »Hilfe!« Dieses Leben hätte ich unter den Lebenden verbracht. Wir fuhren gemeinsam im Fahrstuhl nach unten und gingen bis zur Tür, sie blieb stehen, ich ging weiter. Ich wusste, dass ich dabei war, das zu zerstören, was sie wieder hatte aufbauen können, aber ich hatte nun einmal nur ein Leben. Ich hörte sie hinter mir. Da ich war, wie ich war, oder obwohl ich war, wie ich war, drehte ich mich noch einmal um, »Nicht weinen«, sagte ich zu ihr, indem ich mir die Finger aufs Gesicht legte und mir unsichtbare Tränen über die Wangen und zurück in die Augen wischte, »Ich weiß«, sagte sie, während sie sich echte Tränen von den Wangen wischte, ich stampfte mit den Füßen auf, um ihr zu sagen: »Ich fahre doch nicht zum Flughafen.« »Fahr zum Flughafen«, sagte sie, ich berührte sie an der Brust, ergriff ihre Hand und zeigte damit in die Welt, dann zeigte ich damit auf ihre Brust, »Ich weiß«, sag te sie, »natürlich weiß ich das.« Ich hielt ihre Hände und tat so, als stünden wir hinter einer unsichtbaren Mauer oder einem unsichtbaren Gemälde, dessen Oberfläche wir ertasteten, und obwohl ich dadurch riskierte, zu viel zu sagen, legte ich mir eine ihrer Hände auf die Augen, die andere legte ich ihr auf die Augen, »Du bist zu gut zu mir«, sagte sie, ich legte mir ihre Hände auf den Kopf und nickte, sie lachte, ich liebe ihr Lachen, obwohl ich sie in Wahrheit nicht wirklich liebe, sie sagte: »Ich liebe dich«, ich beschrieb ihr meine Gefühle, ich beschrieb sie ihr folgendermaßen: Ich nahm ihre Hände, ich richtete ihre Zeigefinger aufeinander und bewegte sie langsam, sehr langsam aufeinander zu, je näher sie sich kamen, desto langsamer
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