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Extrem laut und unglaublich nah

Extrem laut und unglaublich nah

Titel: Extrem laut und unglaublich nah Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Safran Foer
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bewegte ich sie, und dann, als sie nur noch um Haaresbreite voneinander entfernt waren und von beiden Seiten auf das Wort »Liebe« zeigten, hielt ich sie an, ich hielt ihre Finger an und ließ sie so. Ich weiß nicht, was sie sich dabei gedacht hat, ich weiß nicht, wie viel sie begriffen hat oder was sie nicht begreifen wollte, ich drehte mich um und ging davon, ich ging fort von ihr, ich schaute nicht zurück, ich werde nicht zurückschauen. Ich erzähle dir all dies, weil ich nie dein Vater sein werde, und weil du immer mein Kind sein wirst. Du sollst wenigstens wissen, dass ich nicht aus Egoismus gegangen bin, wie soll ich das erklären? Ich kann nicht leben, ich habe es versucht, aber ich kann einfach nicht. Wenn das zu schlicht klingt, dann ist es so schlicht, wie ein Berg schlicht ist. Deine Mutter hat ebenfalls gelitten, aber sie hat sich für das Leben entschieden, und sie hat gelebt, sei ihr ein Sohn und sei ihr ein Mann. Ich erwarte nicht, dass du mich je verstehst oder mir gar vergibst, vielleicht liest du diese Worte auch nie, selbst dann nicht, wenn deine Mutter sie dir geben sollte. Ich muss jetzt los. Ich will, dass du glücklich bist, das ist mir wichtiger als mein eigenes Glück, klingt das schlicht? Ich gehe fort.

Bevor ich ins Flugzeug steige, werde ich diese Seiten aus dem Buch reißen und zum Briefkasten bringen, ich werde den Umschlag mit »An mein ungeborenes Kind« adressieren, und ich werde kein einziges Wort mehr schreiben, nie mehr, ich bin fort, ich bin nicht mehr hier. In Liebe, dein Vater

Ich hätte gern ein Ticket nach Dresden .

Was tust du hier ?

Du musst nach Hause. Du solltest längst im Bett sein .

Komm, ich bringe dich nach Hause .

Du bist doch verrückt. Du wirst dich erkälten .

Und du wirst dich erkälteren .



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BLEIFÜSSE
SUPERSCHWERE BLEIFÜSSE
    Zwölf Wochenenden später fand die Premiere von Hamlet statt, allerdings in einer gekürzten und aktualisierten Form, weil die Originalfassung zu lang und verwirrend ist und die meisten Kinder in meiner Klasse ADHS haben. Der berühmte »Sein oder nicht sein«-Monolog zum Beispiel, den ich aus Shakespeares Gesammelte Werke kenne, Omas Geschenk, war so zusammengestrichen worden, dass er nur noch aus: »Sein oder nicht sein, das ist hier die Frage« bestand.
    Natürlich musste jeder eine Rolle haben, aber es gab nicht genug richtige Rollen, und ich ging nicht zu den Proben, weil ich an den Tagen zu schwere Bleifüße hatte, also bekam ich die Rolle des Yorick. Das war mir zunächst eher peinlich. Ich fragte Mrs Rigley, ob ich stattdessen im Orchester Tamburin spielen könnte oder so was in der Art. Sie sagte: »Es gibt kein Orchester.« Ich sagte: »Trotzdem.« Sie sagte zu mir: »Es wird bestimmt toll. Du wirst ganz in Schwarz sein, und die Maskenbildner malen deine Hände und deinen Hals schwarz an, und die Kostümbildner basteln dir einen Schädel aus Pappmaché, den du dir über den Kopf stülpst. Du wirst wirklich das Gefühl haben, körperlos zu sein.« Ich dachte kurz darüber nach, und dann machte ich ihr einen Gegenvorschlag: »Ich tue Folgendes – ich erfinde einen Unsichtbarkeitsanzug, der auf dem Rücken eine Kamera hat, die hinter mir alles filmt und das Bild auf einen Plasma-Bildschirm überträgt, den ich vor dem Bauch trage und der alles außer meinem Gesicht bedeckt. Das sieht dann aus, als wäre ich gar nicht da.« Sie sagte: »Kommt nicht in Frage.« Ich sagte: »Aber ist Yorick denn wirklich eine Rolle?« Sie flüsterte mir ins Ohr: »Wenn überhaupt, dann habe ich die Befürchtung, dass du allen die Show stiehlst.« Da fand ich es super, Yorick zu spielen.
    Die Premiere war ziemlich Klasse. Wir hatten eine Nebel-Maschine, sodass der Friedhof wie der Friedhof in einem Ki nofilm aussah. »Ach, armer Yorick!«, sagte Jimmy Snyder und fasste mir unters Kinn, »Ich kannte ihn, Horatio.« Ich hatte keinen Plasma-Bildschirm, denn die Kosten dafür hätten den Kostüm-Etat gesprengt, aber von unter dem Schädel konnte ich mich heimlich umschauen. Ich sah viele Bekannte, und das gab mir das Gefühl, etwas Besonderes zu sein. Mom und Ron und Oma waren da, versteht sich von selbst. Toothpaste war mit Mr und Mrs Hamilton gekommen, das freute mich, und Mr und Mrs Minch waren da, weil The Minch den Güldenstern spielte. Viele der Blacks, die ich an den letzten zwölf Wo chenenden besucht hatte, waren ebenfalls gekommen. Ada und Agnes waren da. (Sie saßen sogar nebeneinander, obwohl sie nichts voneinander

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