Extrem laut und unglaublich nah
ahnten.) Ich sah Albert und Alice und Allen und Arnold und Barbara und Barry. Sie machten be stimmt die Hälfte des Publikums aus. Krass war nur, dass sie nicht wussten, was sie gemeinsam hatten, und das war ein biss chen wie bei den Sachen, die ich im Central Park ausgegraben hatte – die Heftzwecke, der verbogene Löffel, das quadratische Stück Aluminiumfolie und so weiter –, ohne einen blassen Schimmer zu haben, wie sie in Beziehung zueinander standen.
Ich hatte schreckliches Lampenfieber, aber ich behielt die Nerven, und mein Spiel war extrem subtil. Das weiß ich, weil die Leute stehend Beifall klatschten, und dabei fühlte ich mich große Klasse.
Die zweite Aufführung war auch ziemlich super. Mom war gekommen, aber Ron musste länger arbeiten. Das fand ich okay, denn ich legte sowieso keinen Wert auf seine Anwesen heit. Oma war da, versteht sich von selbst. Ich konnte keine Blacks sehen, aber mir war klar, dass die meisten Leute nur eine Aufführung besuchen, außer es sind deine Eltern, also machte es mir nichts aus. Ich versuchte, mich so richtig ins Zeug zu le gen, und ich glaube, es klappte auch. »Ach, armer Yorick. Ich kannte ihn, Horatio: ein Bursche von unendlichem Humor, voll von den herrlichsten Einfällen. Er hat mich tausendmal auf dem Rücken getragen, und jetzt, wie schaudert meiner Ein bildungskraft davor!«
Zur nächsten Vorstellung kam nur Oma. Mom hatte noch eine späte Sitzung, weil einer ihrer Fälle vor Gericht ging, und nach Ron fragte ich erst gar nicht, weil mir das peinlich ge wesen wäre und weil ich ihn sowieso nicht dabeihaben wollte. Als ich so still wie möglich dastand, Jimmy Snyders Hand un ter meinem Kinn, fragte ich mich: Worin besteht der Sinn meines extrem subtilen Spiels, wenn im Grunde niemand zuschaut?
Am nächsten Abend kam Oma vor der Aufführung nicht hinter die Bühne, um mir Hallo zu sagen, und sie sagte mir auch hinterher nicht Tschüs, aber sie war da. Durch die Au genlöcher sah ich sie hinten in der Turnhalle unter dem Bas ketballkorb stehen. Ihr Make-up sah im Licht ziemlich schrill aus, ihr Gesicht war fast ultraviolett. »Ach, armer Yorick.« Ich stand so still wie möglich, und ich dachte die ganze Zeit: Wel cher Prozess ist wichtiger als die größte Tragödie der Menschheitsge schichte?
Zur nächsten Aufführung kam wieder nur Oma. Sie weinte immer an den falschen Stellen, und sie lachte immer an den falschen Stellen. Sie klatschte bei der Nachricht von Ophelias Tod, eigentlich eine ziemlich schlimme Sache, und sie buhte, als Hamlet am Ende im Duell mit Laertes zum ersten Mal trifft, aus offensichtlichen Gründen eigentlich eine ziemlich gute Sache.
»Hier hingen diese Lippen, die ich geküsst habe, ich weiß nicht, wie oft. Wo sind nun deine Schwänke? Deine Sprünge? Deine Lieder?«
Als wir vor der letzten Aufführung hinter der Bühne stan den, machte Jimmy Snyder vor allen Helfern und Schauspie lern Oma nach. Ich hatte gar nicht gemerkt, wie laut sie wirk lich war. Ich hatte mich irrsinnig über mich geärgert, weil ich sie bemerkt hatte, aber das war Quatsch, denn es lag an ihr. Al len war es aufgefallen. Jimmy machte sie sehr treffend nach – wie sie an lustigen Stellen mit der Hand wedelte, als würde ihr eine Fliege vor dem Gesicht herumschwirren. Wie sie den Kopf zur Seite neigte, als würde sie sich unglaublich schwer auf etwas konzentrieren, und wie sie nieste und sich selbst »Gesundheit!« wünschte. Und wie sie weinte und so laut »Wie traurig« sagte, dass es jeder hörte.
Ich saß da, während er alle Kinder zum Lachen brachte. Selbst Mrs Rigley musste lachen, und ihr Mann, der während des Kulissenwechsels auf der Bühne Klavier spielte, lachte auch. Ich erzählte nicht, dass es meine Oma war, und ich sagte Jimmy nicht, er solle die Klappe halten. Ich musste sogar selbst lachen. Aber insgeheim wünschte ich mir, dass Oma in einer tragbaren Tasche steckte oder dass auch sie einen Unsichtbar keitsanzug trüge. Ich wünschte, wir könnten uns an einen ab gelegenen Ort verkrümeln, zum Beispiel in den Sechsten Be zirk.
An diesem Abend war sie wieder da, sie saß ganz hinten, obwohl nur die ersten drei Reihen besetzt waren. Ich behielt sie von unter dem Schädel im Auge. Sie hatte sich eine Hand auf ihr ultraviolettes Herz gelegt, und ich hörte sie sagen: »Wie traurig. Wie furchtbar traurig.« Ich dachte an den unfertigen Schal und den Steinbrocken, den sie über den Broadway geschleppt hatte, und daran, dass sie ein so langes
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