Extrem laut und unglaublich nah
immer draußen auf der Veranda gesessen und mich mit ihrem Vater unterhalten, während sie sich oben das Näschen puderte! Wir haben die spannendsten Gespräche geführt, ihr Vater und ich! Er war ein großer Mann, ein genauso großer Mann wie Winston Churchill!« Da ich nicht zugeben mochte, dass mir auch der Name Winston Churchill nichts sagte, beschloss ich insgeheim, ihn zu googeln, wenn ich wieder zu Hause war. »Eines Tages kam sie runter und war fertig zum Ausgehen! Ich bat sie, noch einen Moment zu warten, weil ihr Vater und ich mitten in diesem großartigen Gespräch waren, und ein großartiges Gespräch darf man auf keinen Fall unterbrechen, stimmt’s!« »Weiß nicht genau.« »Später am Abend, als ich sie wieder vor der Veranda absetzte, sagte sie: ›Ich frage mich manchmal, ob du meinen Vater lieber magst als mich!‹ Von meiner Mutter habe ich diese absolut idiotische Ehrlichkeit geerbt, und in dem Moment schlug sie voll durch! Ich sagte zu ihr: ›Tue ich ja auch.‹ Tja, das war das letzte Mal, dass ich ›Tue ich ja auch‹ zu ihr gesagt habe, wenn du weißt, was ich meine!« »Weiß ich nicht.« »Ich habe die Kiste gegen die Wand gefahren! Junge, was habe ich die Kiste da gegen die Wand gefahren!« Er lach te dröhnend laut, und er klatschte sich aufs Knie. »Zum Brüllen!«, sagte er. »Wirklich! Ich habe nie wieder etwas von ihr gehört! Aber was soll’s! Im Leben kommen und gehen so viele Menschen! Hunderttausende Menschen! Man muss die Tür immer offen halten, damit sie hereinkommen können! Aber das bedeutet auch, dass man sie wieder gehen lassen muss!«
Er stellte einen Teekessel auf den Herd.
»Sie sind weise«, sagte ich zu ihm. »Ich hatte mehr als genug Zeit, um weise zu werden! Sieh dir das an!«, dröhnte er und schnippte seine Augenklappe hoch. »Das war ein Nazi-Schrapnell! Ich war Kriegsberichterstatter, und zuletzt hatte ich mich einem britischen Panzerregiment angeschlossen, das am Rhein entlang vorstieß! Eines Nachmittags, gegen Ende 1944, gerieten wir in einen Hinterhalt! Mein Auge hat die ganze Seite voll geblutet, die ich gerade schrieb, aber diese Hurensöhne konnten mich nicht bremsen! Ich habe meinen Satz zu Ende geschrieben!« »Wie hat der Satz gelautet?« »Ach, was weiß ich! Wichtig ist doch nur, dass mir wegen dieser ver dammten Krauts nicht der Stift aus der Hand gefallen ist! Der Stift ist mächtiger als das Schwert, merk’s dir! Und das MG 34!« »Würden Sie die Augenklappe bitte wieder runterklap pen?« »Sieh dir das an!«, sagte er und zeigte auf den Küchenfußboden, aber ich musste die ganze Zeit an sein Auge denken. »Unter den Läufern ist Eiche! Massive Eiche! Muss ich wissen, denn ich habe sie eigenhändig verlegt!« »Hammerhart«, sagte ich, und das sagte ich nicht nur aus Nettigkeit. Insgeheim führte ich schon eine Liste darüber, was ich tun konnte, um ihm ähnlicher zu sein. »Wir haben diese Küche selbst renoviert, meine Frau und ich! Mit diesen Händen!« Er zeigte mir seine Hände. Sie glichen den Händen des Skeletts im Wissenschaftskatalog, den Ron mir hatte kaufen wollen, nur dass sie Haut hatten, fleckige Haut, und von Ron wollte ich keine Geschenke. »Wo ist Ihre Frau jetzt?« Der Teekessel begann zu pfeifen.
»Oh«, sagte er, »sie ist vor vierundzwanzig Jahren gestorben! Ist ewig her! Oder erst gestern passiert, wenn es nach meinem Leben geht!« »Oje.« »Alles halb so wild!« »Sind Sie denn gar nicht traurig, weil ich nach ihr gefragt habe? Wenn es so ist, können Sie es ruhig sagen.« »Nein!«, sagte er. »Der Gedanke an sie ist die zweitbeste Sache!« Er schenkte zwei Tassen Tee ein. »Haben Sie auch Kaffee?«, fragte ich. »Kaffee!« »Er bremst mein Wachstum, und ich habe Angst vor dem Tod.« Er klatschte mit einer Hand auf den Tisch und sagte: »Mein Jun ge, ich habe hier eine Packung Kaffee aus Honduras, da steht dein Name drauf!« »Aber Sie kennen meinen Namen doch gar nicht.«
Wir saßen noch eine Weile da, und er erzählte mir mehr aus seinem abenteuerlichen Leben. Soweit er wusste – und er wusste wirklich irrsinnig viel –, war er der einzige noch lebende Mensch, der in beiden Weltkriegen gekämpft hatte. Er war in Australien und Kenia und Pakistan und Panama gewesen. Ich fragte ihn: »Wenn Sie schätzen würden, in wie vielen Ländern wären Sie dann schätzungsweise gewesen?« »Da muss ich nicht schätzen! Einhundertzwölf!« »Gibt es überhaupt so viele Länder?« Er erwiderte: »Es gibt mehr Orte, von
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