Extrem laut und unglaublich nah
denen du nicht gehört hast, als Orte, von denen du gehört hast!« Das gefiel mir sehr. Er hatte über fast jeden Krieg des zwanzigsten Jahrhunderts berichtet, etwa den Spanischen Bürgerkrieg und den Völkermord in Osttimor und das ganze üble Zeug, das in Afrika passierte. All diese Kriege waren mir unbekannt, und deshalb wollte ich sie behalten, um sie zu Hause googeln zu können. Die Liste, die ich im Stillen führte, wurde unglaublich lang: Francis Scott Key Fitzgerald, die ihr Näschen pudert, Churchill, Mustang-Kabrio, Walter Cronkite, Knutschen, die Schweinebucht, LP , Datsun, Kent State, Griebenschmalz, Aya tollah Khomeini, Polaroid, Apartheid, Drive-in, Favela, Trotz ki, die Berliner Mauer, Tito, Vom Winde verweht , Frank Lloyd Wright, Hula-Hula, Technicolor, der Spanische Bürgerkrieg, Grace Kelly, Osttimor, Rechenschieber, eine ganze Reihe afri kanischer Orte, deren Namen ich gleich wieder vergaß. Es waren so viele fremde Namen und Dinge, dass ich sie gar nicht alle im Kopf behalten konnte.
Seine Wohnung war voll gestopft mit den Sachen, die er in all den Kriegen seines Lebens gesammelt hatte, und ich mach te mit Opas Kamera Fotos davon. Es gab fremdsprachige Bü cher und kleine Statuen und Rollen mit schönen Bildern und Cola-Dosen aus aller Welt, und auf seinem Kaminsims lagen ziemlich viele Steine, allerdings keine besonderen. Spannend war aber, dass neben jedem Stein ein kleiner Zettel lag, auf dem stand, woher der Stein stammte und wann er aufgesam melt worden war, zum Beispiel: »Normandie, 19.6.44«, oder: »Huach’on Dam, 9.4.51«, oder: »Dallas, 22.11.63«. Das war echt spannend. Krass war allerdings, dass auf dem Kaminsims auch viele Patronenkugeln lagen, und sie hatten keine Zettel dabei. Ich fragte ihn, wie er sie unterscheiden könne. »Eine Kugel ist eine Kugel ist eine Kugel!«, sagte er.»Aber ist ein Stein nicht auch ein Stein?«, fragte ich. Er sagte: »Absolut nicht!« Ich hatte zwar das Gefühl, ihn zu verstehen, war mir aber noch nicht ganz sicher und zeigte auf die Rosen, die in einer Vase auf dem Tisch standen. »Ist eine Rose eine Rose?« »Nein! Eine Rose ist keine Rose ist keine Rose!« Und dann fiel mir aus ir gendeinem Grund »Something in the Way She Moves« ein, und ich fragte: »Ist ein Liebeslied ein Liebeslied?« Er sagte: »Ja!« Ich überlegte kurz. »Ist Liebe Liebe?« Er sagte: »Nein!« Eine Wand hing voller Masken, die er von seinen Reisen mit gebracht hatte, zum Beispiel aus Armenien und Chile und
Äthiopien. »Die Welt ist nicht schrecklich«, sagte er und setzte sich eine Maske aus Kambodscha auf, »aber sie wimmelt von schrecklichen Menschen!«
Ich trank noch eine Tasse Kaffee, und dann wusste ich, dass ich endlich zur Sache kommen musste, also zog ich mir die Schnur mit dem Schlüssel über den Kopf und gab sie ihm. »Wissen Sie, zu welchem Schloss der Schlüssel gehört?« »Glau be nicht!«, dröhnte er. »Vielleicht haben Sie ja meinen Vater gekannt?« »Wer war dein Vater?« »Er hieß Thomas Schell. Bis zu seinem Tod hat er in der 5a gewohnt.« »Nein«, sagte er,»der Name sagt mir nichts!« Ich fragte ihn, ob er sich hundertpro zentig sicher sei. Er sagte: »Ich habe lange genug gelebt, um zu wissen, dass ich mir nicht hundertprozentig irgendwas bin!«, und er stand auf, ging an der Säule vorbei ins Esszimmer und von dort zum Garderobenschrank, der sich in der Nische un ter der Treppe befand. In dem Moment begriff ich, dass seine Wohnung anders war als unsere, weil sie ein Obergeschoss hatte. Er öffnete den Schrank, der einen Katalog enthielt wie in einer Bücherei. » Cool .«
Er sagte: »Das ist meine biographische Kartei.« »Was?« »Ich habe sie genau dann begonnen, als ich anfing zu schreiben! Für jeden Menschen, auf den ich eines Tages vielleicht wieder Be zug nehmen muss, habe ich eine Karte angelegt! Es gibt eine Karte für jeden Menschen, über den ich geschrieben habe! Und Karten für Menschen, mit denen ich während der Arbeit an meinen Artikeln gesprochen habe! Und Karten für Men schen, über die ich Bücher lese! Und Karten für Menschen, die in den Fußnoten der Bücher auftauchen! Morgens beim Zeitunglesen habe ich für jeden, der biographisch von Bedeu tung war, eine Karte angelegt! Das tue ich immer noch!« »War um gehen Sie nicht einfach ins Internet?« »Ich besitze keinen Computer!« Da begann mir langsam der Kopf zu schwirren.
»Wie viele Karten haben Sie?« »Ich habe sie nie gezählt! In zwischen dürften es
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