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Extrem laut und unglaublich nah

Extrem laut und unglaublich nah

Titel: Extrem laut und unglaublich nah Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Safran Foer
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der mich nur aufgehalten und nichts Brauchbares gewusst hat . Ich keuchte, als ich ihre Klingel drückte. Ich bin froh, dass er gesagt hat, er wolle nicht mehr. Ich weiß überhaupt nicht mehr, warum ich ihn gebeten habe, mitzumachen . Oma machte nicht auf, also klingelte ich noch einmal. Warum wartet sie denn nicht an der Tür? Ich bin doch das einzige Wichtige in ihrem Leben.
    Ich öffnete die Tür selbst.
    »Oma? Hallo? Oma?«
    Vermutlich war sie beim Einkaufen oder so, und ich setzte mich aufs Sofa und wartete. Vielleicht machte sie einen ihrer Verdauungsspaziergänge im Park, obwohl ich die Vorstellung komisch fand. Oder sie wollte mir dehydrierte Eiscreme ho len, oder sie gab irgendetwas bei der Post auf. Aber wem soll te sie schon schreiben?
    Dann fing ich doch an, mir Sorgen zu machen.
    Sie war beim Überqueren des Broadways von einem Taxi überfahren worden, und der Taxifahrer hatte Fahrerflucht be gangen, und alle Leute auf dem Bürgersteig starrten sie an, ohne ihr zu helfen, weil alle Angst davor hatten, die Cardio Pul monale Reanimation falsch zu machen.
    Sie war in der Bücherei von einer Leiter gefallen und hatte einen Schädelbruch. Sie verblutete gerade, weil es eine Ecke mit Büchern war, die niemanden interessierten.
    Sie lag bewusstlos auf dem Grund des Schwimmbeckens im YMCA. Vier Meter über ihr schwammen Kinder.
    Ich versuchte, an andere Sachen zu denken. Ich versuchte, mir optimistische Sachen auszudenken. Aber die pessimisti schen Sachen waren extrem laut.
    Sie hatte einen Herzinfarkt gehabt.
    Irgendjemand hatte sie vor den Zug gestoßen.
    Man hatte sie vergewaltigt und ermordet.
    Ich begann, in ihrer Wohnung nach ihr zu suchen.
    »Oma?«
    Hören wollte ich: »Ich bin okay«, aber alles, was ich hörte, war nichts.
    Ich schaute ins Esszimmer und in die Küche. Ich schaute auch vorsichtshalber in die Speisekammer, aber es war nur Essen darin. Ich schaute in die Kleiderkammer und ins Bad. Ich öffnete die Tür zum zweiten Schlafzimmer, in dem Dad immer geschlafen und geträumt hatte, als er in meinem Alter gewesen war.
    Ich war zum ersten Mal allein in Omas Wohnung, und das fand ich unglaublich krass. Es war, als würde ich ihre Kleider ohne sie darin sehen, und genauso war es auch, als ich in ihren Schrank schaute. Ich zog die oberste Kommodenschublade auf, obwohl ich nicht damit rechnete, Oma darin zu finden, versteht sich von selbst. Warum tat ich es dann?
    Die Schublade war voller Briefumschläge. Hunderte. Ge bündelt und zusammengeschnürt. Ich zog die Schublade dar unter auf, und sie war auch voller Umschläge. Und die Schub lade darunter auch. Alle Schubladen waren voller Umschläge.
    An den Poststempeln konnte ich sehen, dass die Umschläge chronologisch, also nach Datum, geordnet und in Dresden, in Deutschland, abgeschickt worden waren, dem Ort, aus dem Oma stammte. Für jeden Tag gab es einen Umschlag, vom
    31. Mai 1963 bis zum allerschlimmsten Tag. Manche waren mit »An mein ungeborenes Kind« adressiert. Manche waren mit »An mein Kind« adressiert.
    Was zum?
    Ich weiß, dass ich es eigentlich nicht hätte tun dürfen, weil sie nicht mir gehörten, aber ich öffnete einen der Umschläge.
    Er war am 6. Februar 1972 abgeschickt worden. »An mein Kind.« Er war leer.
    Ich öffnete einen Brief aus einem anderen Bündel. 22. No vember 1986. »An mein Kind.« Auch leer.
    14. Juni 1963. »An mein ungeborenes Kind.« Leer.
    2. April 1979. Leer . Ich fand den Umschlag vom Tag meiner Geburt. Leer . Ich hätte wirklich gern gewusst, was sie mit all den Briefe n gemacht hatte.
    Ich hörte in einem der anderen Zimmer ein Geräusch. Ich schob schnell die Schubladen zu, damit Oma nicht merkte, dass ich herumgeschnüffelt hatte, und schlich auf Zehenspit zen zur Wohnungstür, weil ich Angst hatte, dass es ein Einbre cher war. Wieder hörte ich das Geräusch, und diesmal war ich mir sicher, dass es aus dem Gästezimmer kam.
    Ich dachte: Der Mieter!
    Ich dachte: Es gibt ihn wirklich!
    Ich hatte Oma nie mehr geliebt als in diesem Moment.
    Ich machte kehrt, schlich auf Zehenspitzen zur Tür des Gäs tezimmers und legte mein Ohr daran. Ich hörte nichts. Aber als ich mich hinkniete, sah ich, dass im Zimmer Licht brannte. Ich stand wieder auf.
    »Oma?«, flüsterte ich. »Bist du da drin?«
    Nichts.
    »Oma?«
    Ich hörte ein extrem leises Geräusch. Ich kniete mich noch einmal hin, und diesmal sah ich, dass das Licht aus war.
    »Ist da jemand? Ich bin acht Jahre alt, und ich suche meine Oma, denn ich

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