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Extrem laut und unglaublich nah

Extrem laut und unglaublich nah

Titel: Extrem laut und unglaublich nah Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Safran Foer
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brauche sie dringend.«
    Jemand kam zur Tür, aber ich konnte die Schritte fast nicht hören, weil sie extrem sanft waren und weil sie vom Teppich gedämpft wurden. Vor der Tür hielten sie an. Ich hörte, wie je mand atmete, aber es war nicht Oma, denn der Atem ging schwerer und langsamer. Irgendetwas berührte die Tür. Eine Hand? Zwei Hände?
    »Hallo?«
    Der Türknauf drehte sich.
    »Wenn Sie ein Einbrecher sind, verschonen Sie bitte mein Leben.«
    Die Tür ging auf.
    Ein Mann stand da, schweigend, und ein Einbrecher war er auf keinen Fall. Er war unglaublich alt, und sein Gesicht war das genaue Gegenteil von Moms, weil er die Stirn selbst dann zu runzeln schien, wenn er sie gar nicht runzelte. Er trug ein weißes, kurzärmeliges Hemd, sodass ich seine behaarten Ellbogen sehen konnte, und er hatte eine Lücke zwischen den Vorderzähnen, genau wie Dad.
    »Sind Sie der Mieter?«
    Er überlegte kurz, dann schloss er die Tür.
    »Hallo?«
    Ich hörte, wie er im Zimmer herumkramte, und dann kam er zurück und öffnete die Tür wieder. Er hatte ein kleines Buch in der Hand. Er schlug die erste Seite auf, sie war leer. »Ich spreche nicht«, schrieb er, »tut mir Leid.«
    »Wer sind Sie?« Er blätterte zur nächsten Seite und schrieb: »Ich heiße Thomas.« »So hieß mein Dad auch. Den Namen gibt es ziemlich häufig. Er ist tot.« Er schrieb auf die nächste Seite: »Tut mir Leid.« Ich erwiderte: »Sie haben meinen Dad ja nicht getötet.« Auf der nächsten Seite war aus irgendeinem Grund ein Foto von einem Türknauf, also blätterte er noch ei ne Seite weiter und schrieb: »Tut mir trotzdem Leid.« Ich er widerte: »Danke.« Er blätterte ein paar Seiten zurück und zeigte auf: »Tut mir Leid.«
    Da standen wir. Er war im Zimmer. Ich im Flur. Die Tür stand offen, aber weil ich nicht wusste, was ich ihm sagen soll te, und weil er nicht wusste, was er mir schreiben sollte, hatte ich das Gefühl, dass uns eine unsichtbare Tür trennte. Ich sag te zu ihm: »Ich bin Oskar«, und ich gab ihm meine Karte. »Wissen Sie, wo meine Oma ist?« Er schrieb: »Sie ist ausgegan gen.« »Wohin?« Er zuckte mit den Schultern, genau wie Dad. »Wissen Sie, wann sie wiederkommt?« Er zuckte mit den Schultern. »Ich brauche sie.«
    Er stand auf einem Teppich, ich auf einem anderen. Die Li nie, an der sie sich trafen, erinnerte mich an einen Ort, der in keinem der Bezirke liegt.
    »Komm doch herein«, schrieb er, »dann können wir zusammen auf sie warten.« Ich fragte ihn, ob er ein Fremder sei. Er wollte wissen, wie ich das meinte. Ich erwiderte: »Ich gehe nicht zu einem Fremden ins Zimmer.« Offenbar wusste er nicht genau, ob er ein Fremder war oder nicht, denn er schrieb nichts. »Sind Sie älter als siebzig?« Er zeigte mir seine linke Handfläche, auf die JA tätowiert war. »Sind Sie vorbestraft?« Er zeigte mir seine rechte Handfläche, auf die NEIN tätowiert war.»Welche Sprachen können Sie noch?« Er schrieb: »Deutsch. Griechisch. Latein.« »Parlez-vous français?« Er öffnete und schloss die linke Hand, was vermutlich un peu heißen sollte.
    Ich ging mit hinein.
    Die Wände waren beschrieben, überall standen Sätze wie: »Ich hätte so gern ein Leben gehabt«, und: »Wenn auch nur ein einziges Mal, wenn auch nur für eine Sekunde.« Ich konnte nur hoffen, dass Oma diese Schmierereien nie zu Gesicht be kam. Aus irgendeinem Grund legte er das Buch weg und nahm sich ein anderes.
    »Wie lange wohnen Sie schon hier?«, fragte ich. Er schrieb: »Wie lange wohne ich nach Aussage deiner Großmutter schon hier?« »Tja«, sagte ich, »seit Dads Tod, glaube ich, also ungefähr zwei Jahre.« Er öffnete seine linke Hand. »Wo waren Sie da vor?« »Wo bin ich nach Aussage deiner Großmutter davor ge wesen?« »Sie hat mir nichts davon erzählt.« »Ich war nicht hier.« Eine krasse Antwort, fand ich, aber ich gewöhnte mich langsam an krasse Antworten.
    Er schrieb: »Möchtest du etwas essen?« Ich verneinte. Er schaute mich unentwegt an, und das mochte ich nicht, denn es war mir irrsinnig peinlich, aber was sollte ich sagen? »Möch test du etwas trinken?«
    »Wie war Ihr Leben?«, fragte ich. »Wie mein Leben war?« »Ja, genau. Wie war Ihr Leben?« Er schrieb: »Ich weiß nicht, wie mein Leben war.« »Sie müssen doch wissen, wie Ihr Le ben war!« Er zuckte mit den Schultern, genau wie Dad. »Wo sind Sie aufgewachsen?« Er zuckte mit den Schultern. »Na gut. Haben Sie Geschwister?« Er zuckte mit den Schultern. »Was machen Sie

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