Extrem
schnellt aus dem Wasser. Den ersten Atemzug genießt er nicht, er braucht ihn. So stellt er sich den ersten Atemzug eines Säuglings vor. Er blickt zur Uhr: Acht Minuten und 32 Sekunden. Damit gibt er sich noch nicht zufrieden. Er gönnt sich eine Pause, dann will er es noch einmal versuchen. Der Mann dreht den Heißwasserhahn auf, entspannt sich und denkt weiter über den feuchten Lebensspender nach: „Unsere Evolution zeigt, dass wir Wirbeltiere eine lange Zeit im Wasser verbracht haben. Die Entwicklung eines menschlichen Embryos im Mutterleib ist nichts anderes als die Wiederholung dieser stammesgeschichtlichen Entwicklung aller Lebewesen – im Zeitraffer. Nicht nur, dass ein Embryo im Anfangsstadium einer Kaulquappe ähnelt. Er hateine Art Schwanz, von dem später nur das Steißbein übrigbleibt, das wiederum als Überbleibsel der Schwanzwirbel der Wirbeltiere angesehen wird. Außerdem entstehen bei allen Wirbeltieren – auch beim Menschen – während der Embryonalentwicklung Kiemenbögen, aus denen später Unterkiefer und Kaumuskulatur gebildet werden.
Und für eine kurze Zeit nach der Geburt verfügt das Neugeborene über den sogenannten Atemschutzreflex. Als erinnere sich sein Körper nicht nur an die letzten neun Monate im Fruchtwasser, sondern an unsere evolutionäre Entwicklung überhaupt. Dieser Reflex ist ein Schutzmechanismus. In dem Moment, da der Körper des Neugeborenen ins Wasser eintaucht, setzt (durch eine Stimulation des Parasympathikus) die Atmung aus, der Herzschlag wird langsamer und der Blutkreislauf versorgt überlebenswichtige Organe mit Sauerstoff. Zwischen dem dritten und dem sechsten Monat verlieren Babys diese Fähigkeit. Doch der Mann weiß: „Man kann sie sich jederzeit wieder antrainieren.“
Fremde Welten
Die Pause ist vorüber. Wieder zeigt der Sekundenzeiger kurz vor zwölf, einmal einatmen – und los geht’s. „Die Beziehung, die uns mit dem Wasser verbindet, ist also schon sehr alt“, resümiert der Badewannentaucher. „Wie eine alte Liebe, zu der keine Rückkehr mehr möglich ist. Denn wie die kleine Meerjungfrau in Andersens Märchen ihren Fischschwanz für ein Paar Beine aufgibt, haben wir unsere Kiemen gegen ein Paar Lungen getauscht. Damit bleibt uns der Weg zurück in die alte Welt auf immer verwehrt. Geblieben ist ein Gefühl von Nähe – und eine unstillbare Sehnsucht. Als wollten sich dieMenschen mit dieser endgültigen Trennung nicht abfinden. Stattdessen sind wir, angetrieben von Neugier und Abenteuerlust, schon immer auf der Suche gewesen nach Wegen und Techniken, die Tiefe der Ozeane zu ergründen. Eine schwierige Suche. Erste Modelle für Taucherglocken wurden zwar bereits von Aristoteles beschrieben. Doch erst im 17. Jahrhundert setzte man die wenig Vertrauen erweckenden Ungetüme ein, um unter Wasser zu gelangen. Für ihre Insassen entpuppten sie sich oft als nasser Sarg. Trotz der modernsten U-Boote und hochtechnisierter Tauch-Roboter, die uns heute zur Verfügung stehen, bleibt der Ozean in weiten Teilen unerforscht. Mehr als 70 Jahre, bis 1985, hat es gedauert, bis ein amerikanisch-französisches Wissenschaftlerteam das Wrack der vermeintlich unsinkbaren Titanic aufspüren konnte. Und einer Meldung des Spiegel vom 7. Dezember 2011 zufolge ist es einem Forscherteam gerade erst gelungen, den tiefsten Ort des Meeres, den Marianengraben, genauer zu vermessen. Er ist zwei Kilometer tiefer, als der Mount Everest in die Höhe ragt. 10 994 Meter lautet die neue Zahl. Angesichts des Drucks, der dort unten herrscht, gelingt die Vermessung nur mithilfe eines Roboters, der anstelle des Menschen in die Tiefe herabgelassen wird“, sinniert der Mann. Als er diesmal auftaucht, ist er zufrieden: Seine Uhr zeigt acht Minuten und 53 Sekunden. Er beendet seinen Selbstversuch für heute, bleibt aber noch eine Weile in der Wanne liegen und belohnt sich, indem er den Hahn mit dem warmen Wasser noch einmal aufdreht.
Atemstillstand
Die Szene in der Badewanne ist frei erfunden. Aber den Mann, der im Ruhezustand über neun Minuten die Luft anhalten kann, gibt es wirklich. Er heißt Herbert Nitsch, ist Österreicher und hat 32 Weltrekorde aufgestellt. Aktuell hält er noch vier. Seine wohl spektakulärste Leistung: ein Tauchgang in der Disziplin No-Limit – mit nur einem Atemzug hinab in 214 Meter Tiefe. Das ist eine kaum vorstellbare Zahl. Vom Boden bis zur Mitte der Kugel des Berliner Fernsehturms sind es 212 Meter! In der Disziplin No-Limit wird der Taucher stehend
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