Exzession
»Aber…« Sie
hielt inne. Sie senkte den Kopf und schwieg eine Weile. Ulver sah
besorgt zu ihr hinüber.
Dajeils Schultern bebten einmal ruckartig. Ulver wischte sich die
Lippen ab, warf die Serviette weg und ging hinüber zu ihr,
beugte sich zu ihr hinab und legte ihr versuchsweise einen Arm um die
Schultern. Dajeil neigte sich zögernd zu ihr, um
schließlich den Kopf in Ulvers Halskuhle zu betten.
Die Schiffsdrohne betrat von der Wendeltreppe her den Raum. Ulver
scheuchte sie weg.
Einige Bildschirme leuchteten an der gegenüberliegenden Wand
auf und zeigten etwas, das Ulvers Vermutung nach der Rumpf der Sleeper Service war, der sich allmählich immer weiter
entfernte. Einige weitere Bildschirme zeigten eine sich nähernde
Wand aus gittergemustertem Grau. Sie ahnte, daß die zwei
Minuten, von denen die Drohne zuvor gesprochen hatte, vergangen
waren.
Dajeil weinte eine Zeitlang. Nach ein paar Minuten fragte sie:
»Glaubst du, daß er mich noch liebt? Ein
bißchen?«
Ulver machte ein schmerzvolles Gesicht, doch nur die Sensoren des
Schiffes registrierten den Ausdruck. Sie holte tief Luft. »Ein
bißchen?« wiederholte sie. »Ja, bestimmt.«
Dajeil schniefte schwer und hob zum ersten Mal wieder den Blick.
Sie gab so etwas wie ein halbverzweifeltes Lachen von sich,
während sie sich mit den Händen einige der Tränen von
den Wangen wischte. Ulver griff nach einer sauberen Serviette und
vollendete die Handlung.
»Es bedeutet ihm nicht mehr allzuviel«, sagte Dajeil.
»Stimmt doch, oder?«
Ulver faltete die tränendunkle Serviette sorgsam zusammen.
»Es bedeutet ihm jetzt sehr viel, weil er hier ist. Weil das
Schiff ihn eigens zu diesem Zweck hierhergebracht hat, in der
Hoffnung, daß ihr beide miteinander reden
würdet.«
»Aber während der übrigen Zeit«, sagte Dajeil,
die sich wieder aufrichtete und den Kopf und das Haar
zurückwarf. »Während der übrigen Zeit schert es
ihn überhaupt nicht, nicht wahr?«
Ulver holte beinahe übertrieben tief Luft, machte ein
Gesicht, als ob sie im Begriff wäre, dieses vehement zu
verneinen, doch dann sank sie in die Hocke und sagte: »Sieh mal,
ich kenne den Mann doch kaum.« Sie machte eine Handbewegung.
»Ich habe vor unserer Begegnung viel über ihn erfahren,
aber ich kenne ihn erst seit ein paar Tagen persönlich. Und wir
haben uns unter sehr sonderbaren Umständen kennengelernt.«
Sie schüttelte den Kopf und sah sehr ernst aus. »Ich
weiß nicht, wer er wirklich ist.«
Dajeil schaukelte eine Weile auf ihrem Stuhl vor und zurück
und starrte das Essen auf dem Tisch an. »Gut genug«, sagte
sie schniefend. »Du kennst ihn gut genug.« Sie strich sich
das zerzauste Haar glatt, so gut sie es vermochte, und sah einen
Augenblick lang zu der durchscheinenden Kuppel hinauf. »Ich
kenne lediglich die Person«, sagte sie, »zu der er wurde,
während er mit mir zusammen war.« Sie sah Ulver an.
»Ich habe vergessen, wie er während der ganzen anderen Zeit
war.« Sie nahm Ulvers Hand in ihre. »Du hingegen siehst ihn
so, wie er wirklich ist.«
Ulver hob langsam die Schultern und ließ sie wieder
herabsacken. »Na ja…«, sagte sie mit besorgter Miene
und in gedehntem Ton. »Er ist ganz in Ordnung, glaube
ich.«
Die Bildschirme auf der anderen Seite des runden Raums zeigten
faserige Gitter, die sich ausdehnten, ihre Umgebung verschlangen und
verschwanden. Das letzte Feld näherte sich, und als es
aufriß, enthüllte es einen schwarzen Raummorast, und dann
– mit einem verschwommenen Streifen vorbeiflitzender Sterne und
demselben kaum wahrnehmbaren Gefühl von Dislokation, das Ulver
und Genar-Hofoen zwei Tage zuvor empfunden hatten, als sie an Bord
der Sleeper Service angekommen waren – hatte sich die Trübe Aussichten von dem ASF befreit und schälte
sich auf einem abweichenden Kurs innerhalb seiner eigenen
konzentrischen Anhäufung von Feldern von ihm ab.
»Und wie stehe ich bei alledem da?« flüsterte
Dajeil.
Ulver zuckte die Achseln. Sie blickte auf Dajeils Bauch hinab.
»Immer noch schwanger?« mutmaßte sie.
Dajeil sah sie an. Sie stieß ein kurzes Lachen aus und
senkte erneut den Kopf.
Ulver tätschelte ihre Hand. »Erzähl mir davon, wenn
du möchtest.«
Dajeil schniefte und tupfte sich die Nase mit der
zusammengefalteten Serviette ab. »Ja. Ich bin sicher, du
interessierst dich wirklich dafür.«
»Oh, du kannst mir glauben«, antwortete Ulver, »die
Probleme anderer Leute haben mich schon immer tief
ergriffen.«
Dajeil seufzte. »Die Probleme anderer
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