Ezzes
miserabel die Programme auch immer sein mochten. Mit Jelka konnte man sich sogar einen Bauernschwank ansehen. Gut, die „weiße Sklavin“, die im Kino lief, wie er sich erinnerte, die ließ man besser aus, denn Jelka könnte derlei missverstehen. Und bei längerem Nachdenken war auch ein Theaterbesuch mit Risken behaftet. War das Stück eine Pleite, dann drückte das unwillkürlich auf die Stimmung. Und lachte er an den falschen Stellen, dann mochte er in Jelkas Achtung sinken. Nein, ein Museum war genau dasRichtige, da konnte man nichts falsch machen. Er würde also, sage man, am Dienstag bei Jelka vorbeischauen, ganz gepflegt einen Kaffee trinken und am Ende vorschlagen, nächstens gemeinsam ins Kunsthistorische Museum zu gehen. Und zum Glück war man in Wien, da gab es viele Museen, die man sich zu zweit ansehen konnte. Über kurz oder lang baute man allein mit solchen Ausflügen eine enge Vertrautheit auf, die einer Beziehung dann das nötige Fundament verleihen würde.
Irgendwie seltsam, schmunzelte Bronstein in sich hinein, in beiden Fällen sah er sich in derselben Situation: Er konnte nichts tun und musste die weitere Entwicklung abwarten. Da er aber da wie dort zur Untätigkeit verurteilt war, erschien es doch sinnvoll, sich wieder auf die beiden Frauen im vorderen Waggon zu konzentrieren.
Doch es dauerte nicht lange, da träumte er sich wieder in das am Nachmittag Erlebte zurück. Er sah Jelka vor sich und verspürte das Bedürfnis, sie noch einmal in die Arme zu nehmen. Doch in seinem Kopf stritten zwei Bilder um die Vorherrschaft. Neben die großen, unergründlichen Augen und das sanfte Lächeln drängte sich Jelkas nackter Körper, und Bronstein registrierte eine neuerliche Erregung an sich. War er wirklich so ein triebgesteuertes Tier, das immer nur an derartige Ausschweifungen dachte? Er ärgerte sich über diese seine Primitivität, die er auch dadurch nicht zu entschuldigen vermochte, schon so lange unfreiwillig enthaltsam gelebt zu haben. Dieser Umstand war keine Ausrede für niedrige Instinkte! Bronstein beugte sich ruckartig vor und griff nach einer Zigarette. Er zündete sie an und stand auf, um sich direkt ans Fenster zu stellen. „Aurea prima sata est aetas, quae vindice nullo“, memorierte er. „Na bitte, es funktioniert ja immer noch“, dachte er dann. Das Herunterleiern lateinischer Texte hatte ihm schon zu Schulzeiten jede Unkeuschheit ausgetrieben, und so war es auch diesmal. Er atmete tief durch, entschuldigte sich in Gedanken beiJelka dafür, sie für die nächste Zeit aus seinem Gehirn verbannen zu müssen, und richtete sein Denken endlich wieder auf den Fall ein. Er riskierte einen Blick auf den Nebenwaggon, doch nichts rührte sich. Alles war, wie es gewesen war, und so würde es wohl auch bis Oberösterreich bleiben.
Wie nicht anders zu erwarten, tat sich an den Bahnhöfen von St. Pölten, Amstetten und St. Valentin nichts. Doch je näher der Zug der oberösterreichischen Landeshauptstadt kam, desto mehr Nervosität registrierte Bronstein an sich. Zudem hatte er seit den frühen Mittagsstunden nichts mehr gegessen, sodass sich seiner nun auch ein markantes Hungergefühl bemächtigte. Doch der Bauch musste warten. An dieser Stelle gab es andere Prioritäten. Bronstein beschloss, keine Strategien mehr zu entwickeln, sondern die Dinge auf sich zukommen zu lassen. Wenn es so weit war, würde er einfach improvisieren, beschloss er.
Ohne jede Verspätung traf der Zug am Welser Hauptbahnhof ein. Bronstein hatte sich schon bald nach Linz zum Ausstieg begeben, wo er die beiden Frauen wieder im Blick hatte. Genau genommen nur den rechten Unterschenkel der Seiler, aber das genügte, um zu erkennen, dass die beiden noch dort saßen, wo sie sich nach Auskunft des Schaffners niedergelassen hatten. Während draußen allmählich die Stellwerke des Bahnhofs sichtbar wurden, fiel Bronstein der flache, schwarze Schuh auf, der Seilers Fuß umschloss. Er hatte schon gehört, dass die Mode zurzeit dahin tendierte, die hohen Absätze früherer Saisonen wieder zu reduzieren, aber dass es nun auch schon Schuhe gab, die gänzlich ohne Absätze auskamen, war ihm neu. Aber wahrscheinlich war das für eine Frau wesentlich praktischer, als wenn sie den ganzen Tag durch die Gegend stöckeln musste, dachte Bronstein bei sich.
Gleich danach musste er in Deckung gehen, da sich die Seiler erhoben hatte und dem Ausgang zustrebte. Sie wirkte nunviel kleiner als wenige Stunden zuvor. Was Schuhwerk so alles
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