Ezzes
Kopfbewegung in die Richtung der Rezeption. „Macht zehnGroschen“, beschied er beiläufig, ohne dabei von seinen Gläsern aufzublicken.
Bronstein legte die geforderte Münze auf die Schank und griff sich den Apparat. Er ließ sich vom Amt mit dem Polizeipräsidium verbinden und schickte Pokorny mit der Auflage nach Hause, er möge sich am kommenden Morgen ab sieben Uhr zur Verfügung halten. Wiewohl er das Gespräch bewusst kurz hielt, entging ihm die Erleichterung nicht, die Pokorny am anderen Ende der Leitung empfand.
Bei ihm selbst stellte sich freilich keine Erleichterung ein. Da saß er nun allein in einem kleinen Fremdenzimmer und wusste nicht, was er mit sich anfangen sollte. Er hatte noch nicht einmal Lesestoff. Doch war ihm überhaupt nach Lektüre? „Du fragst, ob du mir meine Bücher schicken sollst? Lieber, ich bitte dich um Gottes Willen, lass sie mir vom Halse. Ich will nicht mehr geleitet, ermuntert, angefeuert sein, braust dieses Herz doch genug aus sich selbst“, zitierte er sich den „Werther“. Bronstein warf einen flüchtigen Blick aus dem Fenster und sah, dass die Umgebung nun in völlige Dunkelheit eingehüllt war. Vielleicht, so dachte er bei sich, die richtige Gelegenheit, um einmal zu einer christlichen Zeit zu Bett zu gehen.
Vorerst aber öffnete er die Fensterflügel, um frische Luft in die Stube zu lassen. Instinktiv beugte er sich aus der Öffnung und erkannte zu seiner rechten Hand in der Finsternis einen Balkon. Dieser Umstand erstaunte ihn, hatte er doch nebenan gar kein Zimmer wahrgenommen. Er schloss das Fenster wieder und trat aus seiner Kammer auf den Flur. Tatsächlich, der Balkon war vom Gang aus betretbar und damit, so fand Bronstein, Allgemeingut. Nachdem er zudem festgestellt hatte, dass die Tür nach draußen nicht versperrt war, schnappte er sich den Sessel aus seinem Quartier und trug ihn auf den Balkon. Dort ließ er sich nun in der milden Abendluft nieder und rauchte genüsslich eine Zigarette.
Bronstein erging sich in der Betrachtung des Himmels und versuchte, sich an die Schulzeit zu erinnern. Den großen Bären hatte er rasch gefunden, und auch der Nordstern fiel ihm recht bald auf. Doch eigentlich, so dachte er, musste es möglich sein, auch die einzelnen Sternbilder zu identifizieren. Nun, da war er schnell ratlos. Er war alles andere als firm beim Firmament, bekannte er sich ein. Die schier unüberschaubare Vielzahl der Sterne und anderen Himmelskörper verwirrte ihn. Beinahe so, wie diese unglücklichen Fälle, dachte er sich. Um sich gleich darauf zu wundern, weshalb ihm dieser Gedanke einen Plural nahegelegt hatte. Wie kam er jetzt auf einmal wieder auf den Schattendorfer Prozess? Ja, richtig, sagte er sich dann, dort wurde ja das Urteil für die kommenden Tage erwartet. Für den Donnerstag waren die Schlussplädoyers avisiert, danach hatte die Jury ihre Entscheidung zu treffen. Wenn er morgen Abend nach Wien zurückkehrte, dann würde wenigstens dieser Fall zu den Akten gelegt sein.
Seiner jedoch war ungelöster denn je. Seit einer Woche mühte er sich jetzt schon ab, stocherte ziellos herum und fand vielleicht gerade darum rein gar nichts. Betrachtete man die Angelegenheit nüchtern, so konnte man nicht umhin zuzugeben, dass gemäß dem Kenntnisstand nur zwei Personen für die Tat in Frage kamen. Die Gindl und die Hildebrand. Bronstein mochte sich nicht auszudenken, was passieren würde, wenn sich beide Optionen als Sackgasse herausstellten. Dann stand er über Nacht wieder ganz am Anfang und polizeiintern unmittelbar am Abgrund.
Innerlich hoffte er, die Hildebrand würde nicht ganz koscher sein, denn sie war eigentlich die letzte Option, die ihm geblieben war. Bronstein stützte seine Ellbogen auf den Oberschenkeln ab und legte seinen Kopf in die Handflächen. „David, David“, sagte er zu sich selbst, „da hast du dich ja in eine schöne Misere hineingeritten. Du torkelst völlig ahnungslosdurch diesen Fall, und nur noch reines Glück kann dich retten. Wie ein Spieler hast du einfach alles auf eine Karte gesetzt, und aus langjähriger Erfahrung weißt du, dass so etwas höchstens im Kitschroman zum Erfolg führt. In deiner zwanzigjährigen Laufbahn sind dir unzählige Hasardeure untergekommen, die Haus und Hof verspielt haben, weil sie sich keine andere Option als die eine von ihnen gewählte offen gelassen haben, und da denkst du, ausgerechnet bei dir könnte eine solche Strategie aufgehen? Weit ist es nicht her mit dir als
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