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F (German Edition)

F (German Edition)

Titel: F (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Kehlmann
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Großvater, seinen Urgroßvater, es war die Geschichte unserer Vorfahren, Generation um Generation, bis zurück in ein vage umrissenes Mittelalter. Das meiste ist reine Erfindung, denn über das Vergangene, so Arthur zu Beginn, weiß man nichts: Man meint, die Verstorbenen wären irgendwo aufbewahrt. Man meint, dem Universum blieben ihre Spuren eingeschrieben. Aber das stimmt nicht. Was dahin ist, ist dahin. Was war, wird vergessen, und was vergessen ist, kommt nicht zurück. Ich habe keine Erinnerung an meinen Vater . Seltsamerweise hatte ich mich bestohlen gefühlt. Es waren auch meine Vorfahren.
    Ich trat auf die Straße, und dort stand er. Die Haare wirr wie ehedem, die Hände in den Taschen, auf der Nase die gleiche Brille. Bei meinem Anblick breitete er die Arme aus, für einen Moment dachte ich, er würde mich umarmen, aber es war nur eine Geste des Erstaunens über meine Seminaristenkleidung. Er schlug einen Spaziergang vor, ich war plötzlich zu heiser, um zu antworten.
    Wir gingen schweigend. Ampeln blinkten, Autos hupten, und ich hörte die Wortfetzen vorbeigehender Menschen. Mir war, als wären all die Geräusche Teil einer Geheimsprache, als redete die Welt mit Hunderten Lauten auf mich ein, aber ich konnte mich nicht konzentrieren und verstand nichts.
    «Ich werde eine Zeitlang in der Stadt sein», sagte er.
    «Unter falschem Namen?»
    «Ich bin nur ein bekannter Schriftsteller. Kein Mensch kennt bekannte Schriftsteller. Ich brauche keinen falschen Namen.»
    «Was hast du gemacht all die Jahre?»
    «Hast du meine Bücher gelesen?»
    «Natürlich.»
    «Dann weißt du es.»
    «Und sonst?»
    «Nichts. Ich habe sonst nichts gemacht. Darum ging es ja.»
    «Ach darum ging es!»
    «Du nimmst es mir übel?»
    Ich antwortete nicht.
    «Dass ich nicht da war? Nicht mit euch Sackhüpfen gespielt habe, nicht im Zoo mit dir gewesen bin, keine Elternsprechtage besucht, nicht auf dem Teppich herumgebalgt und dich nicht auf den Jahrmarkt eingeladen habe? Das nimmst du mir übel?»
    «Was, wenn die Bücher nicht gut sind?»
    Er sah mich von der Seite an.
    «Was dann?», sagte ich. «Alles geopfert, und dann sind sie nicht gut? Was dann?»
    «Dagegen gibt es keine Versicherung.»
    Wieder gingen wir schweigend.
    «Pflichten», sagte er nach einer Weile. «Wir erfinden sie nach Bedarf. Niemand hat sie, es sei denn, er entscheidet, dass er sie hat. Aber ich liebe euch sehr. Alle drei.»
    «Trotzdem wolltest du nicht bei uns sein.»
    «Ich glaube nicht, dass ihr viel versäumt habt. Wir werden über alles sprechen. Das Hotel gegenüber vom Bahnhof, komm heute Abend, Iwan wird auch da sein.»
    «Und Eric?»
    «Er möchte mich nicht sehen. Komm um acht zum Essen. Ich vermute, du isst gerne.»
    Ich wollte fragen, was ihm das Recht zu so einer Bemerkung gab, aber das war schon sein Abschied gewesen. Er winkte, ein Taxi hielt, er stieg ein und schlug die Tür hinter sich zu.
    An diesem Abend saßen wir viele Stunden zusammen. Iwan sprach von dem Moment, als er begriffen hatte, dass er nie ein großer Maler werden würde, und Arthur erzählte von seiner Idee, ein Buch zu schreiben, das nichts als eine Botschaft an einen einzigen Menschen sei, in dem also alle Kunst nur der Camouflage diene, damit keiner außer diesem einen es merken könne, was jedoch das Buch paradoxerweise zu einem Werk der hohen literarischen Kunst machen werde. Gefragt, was denn die Botschaft sein solle, sagte er, das hänge vom Empfänger ab, und gefragt, wer der Empfänger sein solle, sagte er, das hänge ab von der Botschaft. Gegen Mitternacht berichtete Iwan davon, wie sein Verdacht, dass er homosexuell sei, sich in seinem neunzehnten Lebensjahr ohne Schrecken oder Erschütterung bestätigt hatte, was er aber Eric nie habe erzählen können, aus Sorge, dieser würde ob ihrer Ähnlichkeit an sich selbst irrewerden. Um ein Uhr war ich kurz davor zu gestehen, dass ich nicht an Gott glaubte, tat es aber doch nicht und sprach stattdessen von Karl-Eugen Immermann, dem dreizehnjährigen Jungen, der bei jedem Wettbewerb genau drei Sekunden schneller war als ich, ich hatte einfach keine Chance gegen ihn. Um halb zwei sagte Arthur, dass er sich damit abgefunden habe, mit Schuld und Reue leben zu müssen wie andere mit einem steifen Fuß oder chronischem Rückenschmerz, gegen zwei Uhr weinte ich ein wenig, um halb drei verabschiedeten wir uns und versprachen einander, uns am nächsten Abend wieder zu treffen.
    Als wir tags darauf ins Hotel kamen, war Arthur abgereist.

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