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F (German Edition)

F (German Edition)

Titel: F (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Kehlmann
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handle es sich nicht um ein einzelnes Phänomen, sondern um eine Vielzahl davon: die Bereitschaft, sich einer Autorität zu fügen, eine allgemeine Schwäche, eine generelle Offenheit für Suggestionen. Nur selten wirkten noch rätselhaftere Mechanismen des Bewusstseins hinein, noch nicht erforscht, weil keiner sie erforschen wolle. All das führe dazu, dass man die oberflächliche Kontrolle über den eigenen Willen für kurze Zeit verliere.
    Er bekam einen Hustenanfall, Suppe rann ihm übers Kinn.
    Er sage ‹oberflächlich›, erklärte er dann, weil sich normalerweise nichts, was ein Mensch nicht zu erleben oder zu tun wünsche, durch Trance in ihn hineinzwingen lasse. Nur selten lasse sich in einer Seele etwas Profundes in Bewegung setzen.
    Ich fragte, was er damit meine, aber er war in Gedanken schon anderswo und begann, sich zu beschweren. Er klagte über die geringen Gagen, er klagte über die Arroganz der Fernsehredakteure. Er klagte über eine Sendung, aus der sein Auftritt herausgeschnitten worden war. Er klagte über die Gewerkschaft der Bühnenkünstler, er klagte besonders über deren Pensionskasse. Er klagte über die vielen Eisenbahnreisen, die Verspätungen, die dilettantisch organisierten Fahrpläne. Er klagte über schlechte Hotels. Er klagte über gute Hotels, weil sie zu teuer seien. Er klagte über dumme Leute im Publikum, über betrunkene Leute im Publikum, über aggressive Leute im Publikum, über Kinder im Publikum, über Schwerhörige im Publikum, über Psychopathen. Es sei erstaunlich, wie viele Psychopathen in eine Hypnosevorstellung kämen. Dann klagte er von neuem über die Gagen. Ich fragte, ob er noch etwas essen wolle, das Oxford Quarterly bezahle, und er bestellte Schnitzel mit Pommes frites.
    «Noch einmal zurück», sagte ich. «Die Mechanismen des Bewusstseins.»
    Richtig, sagte er. Rätselhafte Mechanismen, ja, das habe er gesagt. Rätselhaft auch für ihn, obwohl er so viel gesehen habe. Aber er sei ja kein Intellektueller und nicht imstande, Erklärungen zu geben. Er sei wider Willen in dieses Metier geraten, gelernt habe er ganz andere Dinge.
    «Und zwar? Was haben Sie gelernt? Welche anderen Dinge?»
    Die Kellnerin brachte das Schnitzel. Er fragte, wie mir die Vorstellung gefallen habe.
    «Sehr beeindruckend.»
    «Sie brauchen nicht zu schwindeln.»
    «Sehr beeindruckend!»
    Nicht groß genug, sagte er, und ich brauchte einen Moment, um zu begreifen, dass er das Schnitzel meinte. Für die Größe zu teuer. Aber teuer sei ja alles heutzutage, der kleine Mann werde ständig ausgenommen.
    Ich fragte, ob es wenigstens gut schmecke, das Schnitzel.
    Zu dick, sagte er. Ein Schnitzel gehöre flach geklopft, warum wisse das keiner mehr? Er zögerte, bevor er fragte, wo mein Tonbandgerät sei.
    «Ich habe ein gutes Gedächtnis.»
    Gedächtnis sei ein überschätztes Phänomen, sagte er kauend. Ganz und gar erstaunlich, wie leicht es sei, ihm falsche Erinnerungen einzugeben, und wie leicht auch, Erinnerungen spurlos zu löschen. Wirklich kein Tonbandgerät?
    Um das Thema zu wechseln, bot ich ihm Nachtisch an, er bestellte Sachertorte. Dann legte er den Kopf schief und erkundigte sich, ob das Oxford Quarterly eine Studentenzeitung sei.
    «Es wird weithin gelesen.»
    «Was studieren Sie, junger Mann?»
    «Kunstgeschichte. Aber ich bin Maler.»
    Er blickte auf den Tisch. «Wir haben uns schon einmal gesehen?»
    «Ich glaube nicht.»
    «Nein?»
    «Ich wüsste nicht, wo.»
    «Maler», wiederholte er.
    Ich nickte.
    «Maler.» Er lächelte.
    Ich fragte ihn, wie groß der Einfluss sei, den ein Hypnotiseur auf Menschen nehmen könne. Könne man jemanden dazu bringen, sein Leben zu ändern? Dinge zu tun, die er nie getan hätte, wäre er nicht hypnotisiert worden?
    «Jeder kann jeden dazu bringen, sein Leben zu ändern.»
    «Aber man kann Menschen nicht dazu bringen, etwas zu tun, das sie nicht tun wollen?»
    Er zuckte mit den Schultern. Unter uns gesagt, was heiße das eigentlich, etwas wollen oder nicht. Wer wisse schon, was er wolle, wer sei im Reinen mit sich. Man wolle so viel und jeden Moment etwas anderes. Natürlich sage man den Zuschauern zu Beginn, dass niemand zu etwas gebracht werden könne, das er nicht ohnehin zu tun bereit sei, aber die Wahrheit sei: Jeder sei fähig zu allem. Der Mensch sei offen, sei ein Chaos ohne Grenze und feste Form. Er blickte sich um. Wieso in aller Welt brauche die Torte so lange, die müsse doch nicht erst gebacken werden!
    Ich sei kein Chaos ohne Grenzen,

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