F (German Edition)
ich doch nicht. Deshalb fahre ich ja hin. Um das herauszufinden.»
Aufgedunsen sitzt er neben mir, unrasiert, kaum noch Haare auf dem Kopf und das Jackett so zerknittert, als hätte er darin geschlafen. In der mittelalterlichen Kunst entspricht das Aussehen der Menschen ihren Seelen: die Bösen hässlich, die Guten schön. Das neunzehnte Jahrhundert hat uns beigebracht, das sei Unsinn. Aber mit ein bisschen Lebenserfahrung merkt man, es ist gar nicht so falsch.
«Waren Sie bei der Khevenhüller-Eröffnung?», fragt er.
Ich schüttle den Kopf. Und weil auch ich Zeitungen lese, weiß ich mit absoluter Sicherheit, dass er jetzt sagen wird, Khevenhüller habe sich seit langem nur noch wiederholt.
«Er macht nichts Neues mehr. Immer das Gleiche, Aufguss um Aufguss. Zwischen ’90 und ’98 war er originell. Da hatte er etwas zu sagen. Jetzt: Schnee von vorgestern.»
Die Bahn hält, die Türen öffnen sich, eine japanische Reisegruppe strömt herein, etwa dreißig Menschen, die Hälfte davon trägt Mundschutzmasken. Aneinandergepresst und schweigend füllen sie den Waggon.
Zöllner beugt sich zu mir. «Ich wünschte, ich hätte Ihren Beruf.»
«Sie können ihn haben», sage ich gedehnt, «Sie wären gut darin.»
Er wehrt ab, derart mit sich selbst beschäftigt, dass ihm meine Unehrlichkeit nicht auffällt. «In fünfzehn Jahren bin ich arbeitslos. Keine Zeitungen mehr. Nur noch im Netz. Und ich bin noch nicht mal fünfzig. Zu jung für die Rente. Zu alt, um noch umzusatteln.»
Mir kommt die Idee zu einem Eulenböck-Bild. Ein Porträt von Zöllner, aus nächster Nähe, wie er hier neben mir sitzt, im grünlichen Kunstlicht des Waggons, vor dem Hintergrund des Japanergedrängels, mit dem Titel Kunstrichter . Aber natürlich geht das nicht, du bist zu lange tot, armer Heinrich, keiner würde es für echt halten.
«All die jungen Leute! Frisch von der Uni, Jahr für Jahr, immer mehr. Sie machen Volontariate, bringen Kaffee, fragen mich, ob ich Zucker möchte, schauen mir über die Schulter und grübeln darüber nach, was ich eigentlich kann, was sie nicht können. Die verstehen alle etwas von Kunst, Friedland! Die sind alle nicht blöd. Die wollen alle meinen Job. Und wohin soll ich dann? Zu kunstkritik online ? Da hänge ich mich lieber auf.»
«Na, na», sage ich betreten. Er wird sich an dieses Gespräch erinnern, und er wird mir nicht verzeihen.
«Aber sie haben nicht das Gespür. Sie wissen nicht, wann es Zeit ist, Malinowski zu loben, und wann die Zeit dafür vorbei ist. Sie lassen sich beeindrucken, ihnen gefällt etwas, oder es missfällt ihnen, das ist der Fehler. Sie wissen nicht, was verlangt wird.»
«Verlangt?»
«Mir macht man nichts vor. Mich beeindruckt nichts. Ob jemand steigt oder fällt, um das zu wissen, braucht man Erfahrung, man braucht Instinkt!» Er reibt sich über das Gesicht. «Aber der Druck, Sie haben ja keine Ahnung! Molkner zum Beispiel. Zuerst hat er Spengrich gelobt, den man jetzt gar nicht mehr mögen kann, dann hat er ausdrücklich Hähnel empfohlen, zwei Tage bevor sie in der Kulturkamera aufgedeckt haben, dass Hähnel Antidemokrat ist, und dann hat er den Fotorealismus die Kunstform der Zukunft genannt. Ein ganz armseliger Versuch, sich gegen Lümping und Karzel als konservative Kraft zu positionieren, aber der Trottel hat sich dafür genau den Moment ausgesucht, als Karzel bei uns in den Abendnachrichten seine Attacke gegen die neuen Realisten geritten hat, Sie erinnern sich, auch Eulenböck hat ja sein Fett weggekriegt. Übelstes Timing! Und jetzt? Was glauben Sie?»
«Ja?» Dunkel erinnere ich mich an Molkner: ein stark schwitzender kleiner Herr, sehr nervös, mit Glatze und Spitzbart.
«Jetzt ist er nur noch Pauschalist», flüstert Zöllner, als dürften die Japaner es auf keinen Fall hören. «Und sein ehemaliger Assistent, Lanzberg, dieses Stück Dreck, streicht in den Reportagen herum, die Molkner von irgendwelchen Provinzvernissagen schickt. Gnadenlos! Das können Sie mir glauben. Ein gnadenloses Geschäft.» Er nickt, horcht seinen eigenen Worten nach, springt unvermittelt auf und schlägt mir noch einmal auf die Schulter. «Tut mir leid, bin in ganz übler Stimmung. Meine Mutter ist gestorben.»
«Das ist ja furchtbar!»
Er schiebt sich zwischen den Japanern hindurch zur Tür. «Sie glauben wohl alles!»
«Dann ist sie nicht gestorben?»
«Jedenfalls nicht heute.» Er drängt einen Mann mit Mundschutz zur Seite und springt hinaus. Die Türen schließen sich,
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