F (German Edition)
der Zug fährt an, einen Moment noch sehe ich ihn winken, dann fahren wir wieder durchs Dunkel.
Ein Japaner setzt sich neben mich und drückt kleine Knöpfe an seiner Kamera. Diese U-Bahn-Linie führt zu keinen Sehenswürdigkeiten, jetzt kommen nur noch die Industriegebiete am Stadtrand. Die Reisegruppe ist im falschen Zug. Jemand sollte es ihnen sagen. Ich schließe die Augen und schweige.
Aus mir würde also kein Maler, das wusste ich jetzt. Ich arbeitete wie zuvor, aber es hatte keinen Sinn mehr. Ich malte Häuser, ich malte Wiesen, ich malte Berge, ich malte Porträts, sie sahen nicht schlecht aus, sie waren gekonnt, aber wozu? Ich malte abstrakte Gebilde, sie waren harmonisch komponiert und farblich durchdacht, aber wozu?
Was bedeutet es, mittelmäßig zu sein – plötzlich ließ die Frage mich nicht mehr los. Wie lebt man damit, warum macht man weiter? Was für Menschen sind es, die alles auf eine Karte setzen, ihr Leben dem Schaffen verschreiben, das Risiko der großen Wette eingehen und dann, Jahr für Jahr, nichts von Bedeutung zustande bringen?
Selbstverständlich liegt es in der Natur einer Wette, dass man sie verlieren kann. Aber wenn es einem wirklich passiert – belügt man sich dann, oder kann man sich ehrlich damit abfinden? Wie macht man es, stolz seine kleinen Ausstellungen vorzubereiten, seine beschränkten Anerkennungen zu sammeln und es für naturgegeben zu halten, dass es weit über einem eine Welt des Gelingens gibt, an der man keinen Anteil hat? Wie richtet man sich ein?
«Schreib über die Mittelmäßigkeit.» Es war Martins Idee gewesen, damals im Klostergarten von Eisenbrunn. Und er hatte recht: Ich konnte immerhin ein Kunsthistoriker mit ungewöhnlichem Forschungsgebiet werden. So schrieb ich einen Brief an Heinrich Eulenböck. Ich log nicht, aber ich erwähnte auch nicht den Titel meiner Dissertation: Mediokrität als ästhetisches Phänomen . Ich schilderte nur, wie ich durch Zufall seine Bilder in einem alten Katalog entdeckt hatte: flämische Bauernhäuser, sanfte Hügel, freundliche Flussgestade und Heuballen, wirklich gut gemalt, kraftvoll und nicht ohne Seele. Das ist es, hatte ich gedacht, was aus mir geworden wäre. Dieses verstockte Könnertum, diese in sich selbst eingeschlossene Perfektion. Das wäre meine Zukunft gewesen. Das wäre ich.
Er antwortete erfreut, und ich machte mich auf den Weg. Ich war erschöpft, denn ich hatte eine kurze Affäre mit einem französischen Choreographen hinter mir, eine Affäre voller Leidenschaft, Streit, Gebrüll, Alkohol, Trennung, Versöhnung und neuer Trennung, und eine Reise kam gerade recht. Eine lange Fahrt mit dem Zug, eine lange Fahrt mit einem anderen Zug, dann eine Überfahrt mit der Fähre, dann eine lange Fahrt mit einem Bus, bis ich ihm endlich in seinem hellen Studio gegenüberstand. In den Fenstern schimmerte der nördlich-kühle Glanz des Meeres.
Er war damals Anfang sechzig und stattlicher, als ich es erwartet hatte, ein eleganter Herr mit weißem Schnurrbart, gepflegter Kleidung und Elfenbeinstock, witzig, gelassen und kultiviert. Ich hatte geplant, am nächsten Tag wieder abzureisen, aber ich blieb. Ich blieb auch den Tag darauf und noch einen Tag und die ganze Woche und das ganze Jahr und das Jahr darauf. Ich blieb bis zu seinem Tod.
Die Lichter der U-Bahn schrumpfen, werden zu einem einzigen Fleck und verlöschen. Die Schönheit braucht keine Kunst, sie braucht auch uns nicht, sie braucht keine Betrachter, im Gegenteil. Gaffende Leute nehmen ihr etwas weg, am hellsten flammt sie, wo keiner sie sieht: weite Landschaften ohne Häuser, die Wolkenspiele des frühen Abends, das verwaschene Rotgrau alter Ziegelmauern, kahle Bäume im Winternebel, Kathedralen, das Abbild der Sonne in einer Ölpfütze, die Spiegeltürme der Insel Manhattan, der Blick aus einem Flugzeugfenster, kurz nachdem man durch die Wolkendecke gestoßen ist, die Hände alter Menschen, das Meer zu jeder Tageszeit und menschenleere U-Bahn-Stationen wie diese – das gelbe Licht, das Zufallsmuster der Zigarettenstummel auf dem Boden, die abblätternden Plakate, noch immer flatternd im Fahrtwind, obwohl der Zug schon lange verschwunden ist.
Die Rolltreppe trägt mich hinauf, die Straße ordnet sich um mich, hoch oben errichtet sich das Gewölbe des Sommerhimmels. Ich blicke in alle Richtungen – nicht nur aus Vorsicht, denn es ist eine gefährliche Gegend, sondern weil wir nun einmal auf der Welt sind, um zu sehen. Die Mülltonnen werfen ihre kurzen
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