F (German Edition)
hätte ich ihn heute Mittag getroffen, und ich wäre nicht hergekommen, und das alles wäre gar nicht geschehen, ist das nicht kurios?
Sehr kurios, aber du musst hier raus. Sonst ist es zu spät.
Zu spät … Wieso habe ich ihnen eigentlich nicht meine Uhr gegeben? Eine TagHeuer, viertausend Euro, vor zwei Jahren in Genf gekauft. Wenn ich sie ihnen gegeben hätte, hätte ich nicht in die Innentasche greifen müssen. Ich sehe auf die Zeiger. Zehn nach vier. Zehn nach vier. Zehn nach vier. Elf nach vier.
Schön und gut, sagt Heinrich, aber ich schlage vor, dass du aufbrichst.
Wohin?
Na hinaus.
Wohin?
Hauptsache hinaus.
Dort hinaus?
Irgendwo hinaus.
Er hat leicht reden, aber es stimmt, es war ein Fehler zurückzukommen. Dieses Haus steht leer, bis auf ein einziges Stockwerk, das Warenlager, aber auch dort habe ich nie einen Menschen gesehen. Auf Händen und Knien muss ich zur Tür, vorbei an Urlaubsfoto Nr. 9 und den hämischen Kindern, quer über das Lichtviereck, das die Sonne auf den Boden wirft, ein paar Meter weiter ist schon die Tür, dort muss ich mich aufrichten, damit ich Klinke und Riegel erreiche, und draußen bin ich.
Also schiebe ich mich aus dem Stuhl, sinke auf den Boden und krieche los. Ich habe noch Kraft, es geht, ich werde es bis zur Tür schaffen. Erst einmal muss ich an den Schubladen vorbei, in der untersten, die ein wenig offen steht, sind die Pinsel, all meine Pinsel, aber ich weiß nicht, wie ich jetzt, genau jetzt, den richtigen finden soll. Es ist nicht leicht, es sind sehr viele, außerdem suche ich keinen Pinsel!
Aber was suche ich denn sonst?
Es wird mir einfallen. Bei den Schubladen. Kalt der Boden an meinen kalten Händen, rissig der Boden an meinen rissigen Händen, rau der Boden an meinen rauen Händen, weiter. Ich darf nicht zu dem Bild sehen, damit ich den Kindern nicht auffalle, und ich muss dem hellen Viereck ausweichen.
Aber was war denn damit? Mit dem hellen Viereck, was war damit?
Ich weiß es nicht mehr. Hilf mir, mach die Tür auf, ich schaffe das mit dem Riegel nicht. Unten auf der Straße wird mich jemand finden, man wird einen Arzt rufen. Und wenn der Arzt fragt, was ich in dieser Gegend verloren habe? Aber warum soll er das fragen, was kümmert ihn mein Studio, was eine Handvoll falscher Bilder, die man nicht einmal falsch nennen kann, sie sind echt, die Fälschung bist du, armer Heinrich, hilf mir mit der Tür! Ich muss hinaus, bevor ich ohnmächtig werde.
Wenn du das weißt, weißt du doch auch, dass du hier allein bist.
Ja, das weiß ich. Und?
Iwan.
Ja?
Wenn du allein hier bist.
Ja?
Dann kann ich dir nicht mit dem Riegel helfen.
Nein?
Iwan.
Ja, ich verstehe. Ja. Dann muss ich. Weiter. Aber wenn ich unten bin und die drei kommen zurück, was mache ich? Können sie etwa herein, haben sie einen Schlüssel? Vielleicht haben sie mit der Brieftasche auch meine Schlüssel genommen.
Wenn sie ihn genommen hätten, dann wären doch sie jetzt hier und nicht du.
Wieso?
Weil du keinen Schlüssel hättest.
Aber was wollen sie denn hier?
Gute Frage. Vielleicht kriechst du lieber weiter.
Aber –
Es ist eilig.
Aber –
Es ist wirklich eilig, Iwan.
Nie ist mir aufgefallen, dass dieses Studio groß ist. Blickt man von hier unten zum Fenster, dann ist da viel mehr Himmel, viel mehr Blau als sonst. Ich vermute, dass es draußen noch immer heiß ist, aber ich spüre es nicht, mir ist kalt. Jetzt tut es wieder sehr weh. Müsste man nicht einatmen, wäre alles leichter, man kann es einschränken, aber ein klein wenig atmen muss man doch, das brennt wie Feuer. Es ist wohl der Schmerz, der mich wach hält. Denn ich bin so müde, und immer wieder wird es kurz dunkel, aber dann atme ich wieder ein, und im selben Moment tut es so weh, dass ich wach bin, verstehst du?
Iwan, ich bin nicht hier.
Das warst du nie. Seit dem Nachmittag beim Hypnotiseur. Immer anderswo. Aber bist du gar nicht beeindruckt? Dein Sohn, der Held?
Ich werde nie davon erfahren, Iwan. Niemand wird das, wenn du es nicht bis zur Tür und nach draußen schaffst. Kriech weiter, verfang dich nicht im Gras.
Weißt du noch, wir beide im Sandkasten? Du hast Türme gebaut, und ich habe sie umgeworfen, und dann hast nicht du geweint, sondern ich, bis Papa gekommen ist und «Eric, hör auf!» gesagt hat, dabei bist du es gar nicht gewesen.
Das Gras ist so hoch. Aber wenn sie doch zurückkommen? Dort steht wieder der dürre Mann und rückt an seinem Hut und sagt: «Jägerstraße 15b, fünfter Stock!»
Weitere Kostenlose Bücher