Fabelheim: Roman (German Edition)
seines Schreibtischs. »Diese Begegnung ist ein erschreckendes Beispiel für die Gründe, warum der Wald verboten ist. Es hätte katastrophal enden können. Du hast dich in eine sehr gefährliche Gegend gewagt.«
»Ist sie eine Hexe?«, fragte Seth.
»Ja. Ihr Name ist Muriel Taggart.«
»Wie kommt es, dass ich sie sehen konnte?«
»Hexen sind sterblich.«
»Warum schaffst du sie dir dann nicht vom Hals?«, meinte Seth.
»Der Schuppen im Wald ist nicht ihr Zuhause. Er ist ihr Gefängnis. Sie verkörpert alle Gründe, warum es unklug ist, den Wald zu erkunden. Ihr Ehemann war vor mehr als hundertsechzig Jahren hier Verwalter. Sie war eine intelligente, liebreizende Frau. Aber sie ging häufig in die dunkleren Teile des Waldes, wo sie sich mit zwielichtigen Wesen abgab. Sie haben sie unterrichtet. Es dauerte nicht lange, bis die Macht der Hexenkunst sie in ihren Bann schlug, und diese Wesen einen beträchtlichen Einfluss auf sie erlangten. Sie wurde labil. Ihr Mann versuchte, ihr zu helfen, aber sie war bereits zu verblendet.
Als sie versuchte, einigen der üblen Bewohner des Waldes bei einem verräterischen Akt der Rebellion zu helfen, rief ihr Mann Hilfe herbei und ließ sie einkerkern. Seither sitzt sie in diesem Schuppen fest, gehalten von dem Knoten in dem Seil, das du gesehen hast. Lasst euch ihre Geschichte als Warnung dienen – ihr habt in diesem Wald nichts verloren.«
»Hab’s kapiert«, sagte Seth. Er wirkte ernst.
»Jetzt haben wir aber genug geplappert über Regeln und Monster«, erklärte Opa und stand auf. »Ich habe zu tun. Und ihr habt eine neue Welt zu entdecken. Der Tag nähert sich seinem Ende, also geht und macht das Beste daraus. Aber bleibt im Garten.«
»Was tust du eigentlich den ganzen Tag?«, erkundigte sich Kendra, während sie neben Opa das Arbeitszimmer verließ.
»Oh, es macht viel Arbeit, dieses Reservat in Ordnung zu halten. Fabelheim ist ein Hort vieler außerordentlicher Wunder und großen Entzückens, aber er bedarf eines hohen Maßes an Instandhaltung. Ihr werdet mich vielleicht
irgendwann einmal begleiten können, jetzt, da ihr das wahre Wesen dieses Ortes kennt. Routinearbeit größtenteils. Ich glaube, dass ihr mehr Spaß haben werdet, wenn ihr im Garten spielt.«
Kendra legte eine Hand auf Opas Arm. »Ich möchte so viel wie möglich sehen.«
KAPITEL 6
Maddox
A ls Kendra aus dem Schlaf hochfuhr, lag ihre Decke wie ein Zelt über ihrem Kopf. Sie war wegen irgendetwas aufgeregt. Fast wie an Weihnachten. Oder an einem schulfreien Tag, für den ein Familienausflug in einen Freizeitpark geplant war. Nein, sie war bei Opa Sørensen. Die Feen!
Sie schlug die Decke zurück. Seth lag mit verdrehten Gliedmaßen da, das Haar wild zerzaust, den Mund offen, die Beine um seine Decke geschlungen, und noch tief schlafend. Sie waren bis spät in die Nacht aufgeblieben und hatten über die Ereignisse des Tages gesprochen, beinahe wie Freunde und nicht wie Geschwister.
Kendra rollte sich aus dem Bett und tappte zum Fenster hinüber. Die Sonne lugte bereits über den östlichen Horizont und erreichte die höchsten Baumwipfel mit ihren Strahlen. Kendra griff sich ein paar Klamotten, ging nach unten ins Badezimmer, zog ihr Nachthemd aus und kleidete sich für den Tag an.
Die Küche war leer. Kendra fand Lena auf der Veranda, wo sie auf einem Hocker balancierte und Windspiele aufhängte. Sie hatte bereits mehrere über die gesamte Länge der Veranda verteilt. Ein Schmetterling umflatterte eins der Windspiele, aus dem eine liebliche, einfache Melodie ertönte.
»Guten Morgen«, sagte Lena. »Du bist früh auf.«
»Ich bin noch so aufgeregt wegen gestern.« Kendra
spähte in den Garten. Die Schmetterlinge, Hummeln und Kolibris waren bereits eifrig bei der Sache. Opa hatte Recht – viele scharten sich um die frisch wieder aufgefüllten Vogeltränken und Springbrunnen und bewunderten ihr Spiegelbild.
»Wieder nur Insekten und Vögel, hm?«, meinte Lena.
»Könnte ich eine heiße Schokolade haben?«
»Lass mich die letzten Windspiele aufhängen«, sagte Lena, verschob den Hocker und stieg furchtlos darauf. Sie war so alt! Wenn sie herunterfiel, wäre das wahrscheinlich ihr Ende!
»Seien Sie vorsichtig«, sagte Kendra.
Lena winkte ab. »Der Tag, an dem ich zu alt bin, um auf einen Hocker zu steigen, ist der Tag, an dem ich mich vom Dach stürze.« Sie hängte das letzte Windspiel auf. »Die mussten wir wegen euch abnehmen. Es wäre euch wahrscheinlich komisch vorgekommen, wenn
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