Fabelheim: Roman (German Edition)
zog sie heraus.
»Was?«
»Ich hab gesagt, die Spannung bringt mich um. Benutzt du die Ohrenstöpsel etwa wirklich?«
»Natürlich. Du nicht?«
»Ich will nichts verpassen.«
»Bist du verrückt?«
»Ich bin kein bisschen müde«, sagte er. »Und du?«
»Nicht besonders.«
»Glaubst du, ich traue mich, aus dem Fenster zu schauen!«
»Red nicht solchen Blödsinn!«
»Die Sonne ist gerade erst untergegangen. Jetzt wäre die beste Zeit!«
»Wie wäre es mit nie?«
»Du bist feiger als Goldlöckchen.«
»Du hast weniger Hirn als Hugo.«
Der Wind schwoll wieder an und nahm stetig an Kraft zu. Zitterndes Stöhnen hallte in der Brise wider, ächzte in verschiedenen Tonlagen und vereinte sich zu gespenstischen, disharmonischen Klängen. Ein langgezogener, vogelähnlicher Schrei übertönte den geisterhaften Refrain; das Geräusch fing auf der einen Seite des Hauses an, zog über das Dach hinweg und verhallte schließlich. In der Ferne begann eine Glocke zu läuten.
Seth schien nicht mehr ganz so mutig zu sein. »Vielleicht sollten wir doch versuchen, etwas zu schlafen«, meinte er und steckte sich die Stöpsel in die Ohren.
Kendra tat das Gleiche. Die Geräusche waren jetzt zwar gedämpft, aber immer noch zu hören: Der heulende Wind klagte, das Haus bebte, und es erklangen immer neue Schreie und wilde Ausbrüche von gackerndem Gelächter. Das Kissen wurde warm, und Kendra drehte es auf die kalte Seite.
Bis jetzt war der Raum vom letzten Tageslicht erhellt worden. Als das Zwielicht verschwand, wurde es dunkel im Zimmer. Kendra presste beide Hände auf die Ohren, um die dämpfende Wirkung der Ohrenstöpsel zu verstärken. Sie sagte sich, dass die Geräusche nur von dem Sturm kamen.
Ein tiefes, rhythxnisches Wummern stimmte in die Kakophonie ein. Es wurde immer lauter und schneller, und darüber erhob sich ein klagender Gesang. Kendra widerstand geisterhaften Bildern von wilden Dämonen auf der Jagd.
Zwei Hände legten sich um ihre Kehle. Sie zuckte zusammen, ruderte wild mit den Armen und schlug Seth mit dem Handrücken auf die Wange.
»Meine Güte!«, beklagte Seth sich und taumelte zurück.
»Das hast du dir selbst zuzuschreiben! Was ist bloß los mit dir?«
»Du hättest dein Gesicht sehen sollen«, lachte er, als er sich von der Ohrfeige erholt hatte.
»Geh wieder ins Bett.«
Er setzte sich auf den Rand von Kendras Bett. »Du solltest deine Ohrenstöpsel rausnehmen. Nach einer Weile ist der Lärm gar nicht mehr so schlimm. Er erinnert mich an diese CD, die Dad immer an Halloween spielt.«
Sie nahm ihr Stöpsel heraus. »Nur dass der Lärm das ganze Haus erschüttert. Und er ist echt.«
»Willst du nicht aus dem Fenster schauen?«
»Nein ! Hör auf, davon zu reden!«
Seth beugte sich vor und knipste die Nachttischlampe an – eine leuchtende Snoopy-Figur. »Ich sehe nicht ein, warum das so eine große Sache sein soll. Ich meine, da draußen kann man wahrscheinlich gerade alle möglichen coolen Sachen sehen. Was ist dagegen einzuwenden, einen kleinen Blick zu riskieren?«
»Opa hat gesagt, wir sollen das Bett nicht verlassen!«
»Opa erlaubt den Leuten, hinzuschauen, wenn sie älter sind«, erwiderte Seth. »Dale hat es mir erzählt. Also kann es nicht so gefährlich sein. Opa denkt lediglich, ich wäre ein Idiot.«
»Ja, und er hat Recht!«
»Denk doch mal nach. In freier Wildbahn würdest du einem Tiger nicht über den Weg laufen wollen. Du würdest dich zu Tode ängstigen. Aber in einem Zoo? Da kann dich der Tiger nicht erwischen. Dieser Raum ist sicher. Wenn wir aus dem Fenster schauen, ist das wie in einem Zoo voller Monster!«
»Es wäre wohl eher wie ein Blick aus einem Käfig, der einen vor den Haifischen schützen soll.«
Ein plötzliches, donnerndes Stakkato erschütterte das Dach, als galoppierte ein Pferdegespann über die Schindeln. Seth zuckte zusammen und hob schützend die Arme über den Kopf. Kendra hörte das Rattern von Wagenrädern.
»Willst du nicht sehen, was das war?«, fragte Seth.
»Versuchst du, mir zu erzählen, das hätte dir keine Angst gemacht?«
»Ich will doch Angst haben. Das ist ja der ganze Sinn der Sache!«
»Wenn du nicht wieder ins Bett gehst«, warnte Kendra ihn, »werde ich es Opa morgen Früh erzählen.«
»Willst du nicht sehen, wer da draußen trommelt?«
»Seth, ich mache keine Witze. Du wirst wahrscheinlich nicht mal etwas sehen können.«
»Wir haben ein Fernrohr.«
Draußen brüllte etwas, ein donnernder Schrei von bestialischer
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