Fabelheim: Roman (German Edition)
Wildheit. Genug, um das Gespräch zum Verstummen zu bringen. Die Nacht tobte weiter. Das Brüllen war nochmal zu hören, nur noch mit größerer Intensität, und einen Moment lang übertönte es alles andere.
Kendra und Seth musterten einander. »Ich wette, es ist ein Drache«, sagte er atemlos und rannte zum Fenster hinüber.
»Seth, nein!«
Seth zog den Vorhang beiseite. Die vier Kürbislaternen warfen ein sanftes Licht über den Teil des Daches, der direkt unter dem Fenster lag. Einen Moment lang glaubte Seth, in der Dunkelheit am Rand des Lichts etwas kreiseln zu sehen, eine wirbelnde Masse aus schwarzem Seidenstoff. Dann sah er nur noch Dunkelheit.
»Keine Sterne«, vermeldete er.
»Seth, geh da weg.« Kendra hatte sich die Decke bis über die Augen gezogen.
Seth spähte noch einen Moment lang aus dem Fenster. »Zu dunkel; ich kann nichts sehen.« Eine schimmernde Fee schwebte aus einer der Kürbislaternen und blinzelte Seth durch die leicht gewölbte Fensterscheibe an. »He, eine Fee ist herausgekommen.« Die winzige Fee schwenkte einen Arm, und drei weitere gesellten sich zu ihr. Eine schnitt Seth eine Grimasse, und dann flogen alle vier in die Nacht davon.
Jetzt konnte Seth gar nichts mehr sehen. Er schloss den
Vorhang und ging rückwärts vom Fenster weg. »Also, jetzt hast du hinausgeschaut«, sagte Kendra. »Bist du nun zufrieden?«
»Die Feen aus den Kürbislaternen sind weggeflogen«, erwiderte er.
»Gut gemacht. Wahrscheinlich haben sie gesehen, wen sie da beschützen.«
»Wahrscheinlich hast du sogar Recht. Eine hat mir eine Grimasse geschnitten.«
»Geh zurück ins Bett«, befahl Kendra.
Das Trommeln ließ nach, ebenso der Gesang. Der geisterhafte Wind wurde still. Das Heulen und Schreien und Lachen wurde leiser und seltener. Etwas klopfte auf das Dach. Dann... Stille.
»Irgendetwas stimmt da nicht«, flüsterte Seth.
»Sie haben dich wahrscheinlich gesehen; geh zurück ins Bett.«
»Ich hab eine Taschenlampe in meiner Notfallausrüstung«. Er ging an den Nachttisch neben seinem Bett und nahm eine kleine Taschenlampe aus der Müslischachtel.
Kendra trat ihre Decken weg, stürzte sich auf Seth und drückte ihn auf sein Bett. Sie entwand ihm die Taschenlampe und stieß ihn zurück, als er wieder aufstehen wollte. Er versuchte es noch einmal, aber sie benutzte seinen Schwung nur, um ihn wieder aufs Bett zu stoßen.
»Hör auf damit, Seth, oder ich gehe sofort zu Opa!«
»Ich hab nicht angefangen! Seine Miene war der Inbegriff beleidigten Schmollens. Sie hasste es, wenn er sich aufführte wie das Opfer, nachdem er Ärger gemacht hatte.
»Ich auch nicht.«
»Zuerst schlägst du mich, und dann springst du mich an?«
»Du hörst auf, die Regeln zu brechen, oder ich gehe sofort nach unten.«
»Du bist schlimmer als die Hexe. Opa sollte einen Schuppen für dich bauen.«
»Geh ins Bett.«
»Gib mir meine Taschenlampe. Ich hab sie von meinem eigenen Geld gekauft.«
Sie wurden von dem Weinen eines Babys unterbrochen. Es klang nicht verzweifelt, sondern war nur wie ein aufgeregtes Kleinkind. Das Weinen schien von vor dem Fenster zu kommen.
»Ein kleines Baby«, sagte Seth.
»Nein, das ist irgendeine List.«
»Maaamaaaaaa«, jammerte das Baby.
»Klingt ziemlich echt«, sagte Seth. »Lass mich einen Blick darauf werfen.«
»Es ist bestimmt ein Skelett oder so etwas.«
Seth griff nach der Taschenlampe. Kendra gab sie ihm nicht, aber sie hinderte ihn auch nicht daran, sie zu nehmen. Seth lief zum Fenster und drückte sie gegen die Scheibe. Dann schaltete er sie ein.
»Oh mein Gott,« sagte er. »Es ist wirklich ein Baby!«
»Siehst du sonst noch was?«
»Nur ein weinendes Baby.« Das Weinen brach ab. »Jetzt sieht es mich an.«
Kendra konnte nicht länger widerstehen. Sie trat hinter Seth. Dort auf dem Dach, direkt hinter dem Fenster, stand ein tränenüberströmter kleiner Junge, gerade alt genug, um stehen zu können. Das Baby trug Stoffwindeln und sonst nichts. Er hatte flauschige, blonde Locken und ein kleines, rundes Bäuchlein mit einem nach außen stehenden Bauchnabel. Mit tränenerfüllten Augen reckte das Kind die pummeligen Ärmchen zum Fenster.
»Das muss ein Trick sein«, sagte Kendra. »Eine Illusion.«
Von der Taschenlampe angestrahlt, machte der Kleine einen Schritt auf das Fenster zu und fiel auf alle viere. Er zog einen Schmollmund und war offenkundig drauf und dran, von neuem in Tränen auszubrechen. Dann stand er auf und versuchte einen weiteren wackeligen
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