Fabelheim: Roman (German Edition)
Nach kurzem Zögern kurbelte er den Eimer wieder herauf.
»Beeil dich«, sagte Kendra.
»Das tu ich ja. Das Ding ist ziemlich tief.«
»Ich habe Angst, dass alles im Wald uns sehen kann.«
»Da ist er schon.« Er hörte auf zu kurbeln und zog den Eimer den letzten Meter von Hand herauf, bevor er ihn auf den Rand des Brunnens stellte.
Kendra gesellte sich zu ihm. In dem hölzernen Eimer schwammen in einer duftenden, gelben Brühe Fleischstückchen, geschnittene Möhren, zerkleinerte Kartoffeln und Zwiebeln. »Sieht aus wie ein ganz normaler Eintopf«, meinte Kendra.
»Besser als normal. Ich probier ihn mal.«
»Tu das nicht!«, warnte sie.
»Hab dich nicht so.« Er fischte ein Stück tropfendes Fleisch heraus und kostete es. »Schmeckt gut!«, verkündete er. Er schob sich eine Kartoffel in den Mund und gab einen ähnlichen Kommentar. Dann kippte er den Eimer und schlürfte etwas von der Brühe. »Erstaunlich!«, sagte er. »Du musst es probieren.«
Etwas kam hinter dem Busch hervor, den sie als letztes Versteck benutzt hatten. Von der Taille aufwärts sah es aus wie ein Mann ohne Hemd und einer außerordentlich behaarten Brust sowie zwei spitzen Hörnern auf der Stirn. Von der Taille abwärts war es eine zottige Ziege. Der Satyr schwang ein Messer und galoppierte direkt auf sie zu.
Beim Schlag seiner Hufe drehten Kendra und Seth sich erschrocken um. »Das Salz!«, stieß Seth hervor und griff in seine Taschen.
Während Kendra nach dem Salz tastete, spurtete sie um den Brunnen herum, um ihn zwischen sich und den Angreifer zu bringen. Nicht so Seth. Er blieb stehen, und als der Satyr nur noch zwei Schritte entfernt war, schleuderte er dem Ziegenmann eine Faust voll Salz entgegen.
Der Satyr blieb ebenfalls stehen, offensichtlich überrascht von der Salzwolke. Seth warf eine zweite Hand voll und tastete in seinen Taschen nach Nachschub. Das Salz sprühte keine Funken, und es zischte auch nicht. Stattdessen wirkte der Satyr verwirrt.
»Was machst du da?«, fragte er mit gedämpfter Stimme.
»Dasselbe könnte ich Sie fragen«, erwiderte Seth.
»Nein, kannst du nicht. Du verdirbst unsere Operation.« Der Satyr stürzte an Seth vorbei und durchschnitt mit seinem Messer das Seil. »Sie kommt.«
»Wer?«
»Ich würde mir die Fragen für später aufheben«, sagte
der Satyr. Er wickelte das Seil auf, packte den Eimer und galoppierte den Hügel hinunter, wobei er immer wieder Suppe verschüttete. Von der gegenüberliegenden Seite des Hügels hörte Kendra raschelndes Blätterwerk und knackende Zweige. Sie folgten dem Satyr.
Der Satyr schlüpfte hinter den Busch, hinter dem Kendra zuvor gehockt hatte. Kendra und Seth gingen neben ihm in Deckung.
Einen Augenblick sahen sie eine riesige, hässliche Frau, die sich zielstrebig dem Brunnen näherte. Sie hatte ein breites, flaches Gesicht mit schlaffen Ohrläppchen, die ihr fast bis auf die stämmigen Schultern herabhingen. Ihr unansehnlicher Hängebusen war nur unzureichend von einem selbstgesponnenen Gewand verhüllt. Ihre avocadofarbene Haut hatte Rillen wie ein Cordanzug, und ihr graues Haar war zottig und verfilzt. Der Brunnen reichte ihr kaum bis zu den Knien; sie musste also deutlich größer sein als Hugo. Sie wankte beim Gehen von einer Seite zur anderen und atmete keuchend durch den Mund.
Am Brunnen beugte sie sich vor, betastete die Wand und strich mit den Fingern über die hölzerne Winde. »Die Ogerin ist fast blind«, flüsterte der Satyr.
Als er das sagte, riss sie den Kopf hoch. Sie plapperte etwas in einer kehligen Sprache. Nachdem sie einige Schritte von dem Brunnen weggetrottet war, hockte sie sich hin und beschnupperte den Boden an der Stelle, wo Seth das Salz hingeworfen hatte. »Hier waren Leute«, sagte sie anklagend mit heiserer Stimme und starkem Akzent. »Wo seid ihr Leute hin?«
Der Satyr legte einen Finger auf die Lippen. Kendra verhielt sich mucksmäuschenstill und versuchte trotz ihrer Angst, möglichst leise zu atmen. Sie überlegte, in welche Richtung sie rennen würde.
Die Ogerin stolperte den Hang hinunter auf ihr Versteck zu, wobei sie immer wieder in der Luft und am Boden schnupperte. »Ich habe Leute gehört. Ich habe Leute geriecht. Und ich rieche mein Eintopf. Leute waren wieder an mein Eintopf. Ihr kommt jetzt raus und entschuldigt euch.«
Der Satyr schüttelte heftig den Kopf, und um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, fuhr er sich mit den Fingern über die Kehle wie mit einem Messer. Seth schob eine Hand in die Tasche.
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