Fabelheim: Roman (German Edition)
solltet ein paar Kleider für eure Großmutter bereitlegen. Sie wird nichts anhaben.«
Kendra lief zu der Schubkarre und kam mit dem Bademantel und einem Paar Pantoffeln zurück. Muriel stand in der Tür und hielt das Seil umklammert. »Legt eure Großmutter auf meine Türschwelle«, wies sie die Kinder an.
»Ich will auf den Knoten blasen«, sagte Seth.
»Klar«, antwortete Kendra.
»Und du holst Oma aus dem Sack.«
Kendra ging in die Hocke und zog den Sack weit auf. Muriel hielt Seth das Seil hin. Die Henne blickte auf, sträubte ihre Federn und schlug mit den Flügeln. Kendra versuchte, sie festzuhalten, gleichzeitig angeekelt von dem Gefühl schlanker Knochen, die sich unter ihren Händen bewegten.
»Aus freiem Willen löse ich diesen Knoten«, sagte Seth, und Goldlöckchen gackerte laut. Er blies, und der Knoten löste sich.
Muriel hielt beide Hände über die erregte Henne und begann leise, unverständliche Worte zu singen. Die Luft flimmerte. Kendra presste die Henne fest an sich. Zuerst fühlte es sich an, als würde das Fleisch des Vogels kleine Blasen werfen; dann verschoben sich die zarten Knochen. Kendra ließ Goldlöckchen fallen und ging einen Schritt zurück.
Sie sah alles wie in Zerrspiegeln. Muriel dehnte sich zuerst in die Breite, dann in die Höhe. Seth wurde zu einem Stundenglas mit einem riesigen Kopf, einer spindeldürren Taille und Clownsfüßen. Kendra rieb sich die Augen, doch sie sah ihre Umgebung immer noch verzerrt. Als sie nach unten schaute, wölbte sich der Boden in alle Richtungen. Sie ruderte mit den Armen, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren.
Das Bild von Muriel begann sich zu kräuseln, genau wie das von Goldlöckchen, die ihre Federn abwarf und langsam menschliche Gestalt annahm. Dann wurde alles düster, als hätten sich Wolken vor die Sonne geschoben, und eine dunkle Aura verdichtete sich um Muriel und Oma. Die Dunkelheit dehnte sich aus, und einen Moment lang konnte sie nichts sehen. Dann stand Oma vor ihnen, vollkommen nackt. Kendra legte ihr den Bademantel um die Schultern.
Aus dem Innern des Schuppens kam ein Geräusch wie das Heulen eines fürchterlichen Windes. Der Boden rumorte. »Legt euch hin«, sagte Oma und zog Kendra zu sich herab. Seth ließ sich flach auf den Boden fallen.
Eine mächtige Sturmböe riss die Wände des Schuppens auseinander. Trümmer des Dachs flogen in die Baumkronen.
Der Baumstumpf spaltete sich in der Mitte. Kleinholz und Efeu schossen in alle Richtungen davon, prallten gegen Stämme und durchsiebten das Blätterwerk.
Kendra hob den Kopf. Muriel stand in ihren Lumpen da und sah sich voller Staunen um. Noch immer regneten Holzsplitter vom Himmel wie Hagelkörner, dazwischen flatternde Fetzen Efeu. Muriel grinste. Ihre verfaulten Zähne und das entzündete Zahnfleisch waren deutlich zu sehen. Sie begann zu kichern, und Tränen stiegen in ihre Augen. Dann breitete sie die runzeligen Arme weit aus. »Freiheit!«, rief sie. »Endlich Gerechtigkeit!«
Oma Sørensen erhob sich. Sie war kleiner und stämmiger als Muriel, und ihr Haar hatte die Farbe von Zimt und Zucker. »Sie müssen diesen Besitz unverzüglich verlassen.«
Muriel funkelte Oma an, und die Freude in ihrem Blick wurde verdrängt von Boshaftigkeit. Eine Träne entkam und rollte über ihre faltige Wange. »Ist das der Dank dafür, dass ich deinen Fluch aufgehoben habe?«
»Sie haben die Belohnung für die Dienste, die Sie geleistet haben, bereits erhalten. Sie sind der Gefangenschaft entronnen. Die Verbannung aus diesem Reservat ist nur die notwendige Konsequenz früherer Fehltritte.«
»Meine Schulden sind beglichen. Du bist nicht die Verwalterin.«
»Ich habe die gleichen Befugnisse wie mein Mann. In seiner Abwesenheit bin ich die Verwalterin. Ich fordere Sie auf, fortzugehen und nie mehr zurückzukehren.«
Muriel drehte sich um und stapfte davon. »Es ist meine Sache, wo ich mich niederlasse.« Sie blickte nicht zurück.
»Nicht in meinem Reservat.«
»In deinem Reservat, ach ja? Ich erhebe Einspruch gegen
deine Besitzansprüche.« Muriel hatte sich noch immer nicht umgedreht. Oma ging ihr nach – eine alte Frau in einem Bademantel, die eine alte Frau in Lumpen verfolgte.
»Neue Vergehen werden neue Strafen nach sich ziehen«, warnte Oma.
»Du wirst dich noch wundern, wer hier die Strafen verteilt.«
»Provozieren Sie keine neue Feindschaft. Scheiden Sie in Frieden.« Oma beschleunigte ihren Schritt und packte Muriel am Arm.
Muriel riss sich los und drehte sich
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