Fabelheim: Roman (German Edition)
seiner Hand, und er ließ es fallen. Sie beobachteten Goldlöckchen. Einige Minuten lang tat sie nichts, das auf irgendeine Art von Intelligenz schließen ließ, und sie reagierte auch nicht mehr auf ihre Fragen.
»Vorher hat sie uns doch noch geantwortet, oder?«, meinte Kendra.
»Sie hat uns eine Botschaft geschrieben!«, sagte Seth und zeigte auf die Körner in der Ecke.
»Sie muss irgendwie kurz die Möglichkeit gehabt haben, sich mit uns in Verbindung zu setzen«, überlegte Kendra. »Jetzt hat sie die Botschaft übermittelt und überlässt alles Weitere uns.«
»Warum hat sie nicht schon früher mit uns gesprochen?«
»Ich weiß nicht. Vielleicht hat sie es versucht, und wir haben sie nie verstanden.«
Seth neigte nachdenklich den Kopf und zuckte dann mit den Achseln. »Bringen wir sie morgen Früh zu der Hexe?«
»Ich weiß nicht. Muriel hat nur noch einen Knoten übrig.«
»Ganz gleich, was geschieht, wir dürfen den letzten Knoten nicht öffnen. Aber vielleicht könnten wir einen Handel mit ihr machen.«
»Und womit willst du handeln?«, fragte Kendra.
»Wir könnten ihr Nahrungsmittel bringen. Oder andere Sachen. Dinge, die es ihr in der Scheune bequemer machen.«
»Ich glaube nicht, dass sie darauf eingehen wird. Sie merkt bestimmt, dass wir Oma unbedingt wieder zurückhaben wollen.«
»Wir werden ihr keine andere Wahl lassen.«
Kendra biss sich auf die Unterlippe. »Was ist, wenn sie nicht nachgibt? Bei Opa hat sie es auch nicht getan. Lassen wir Muriel frei, wenn sie Oma zurückverwandelt?«
»Auf keinen Fall!«, schnaubte Seth. »Was hindert sie
daran, uns alle in Hühner zu verwandeln, wenn sie frei ist?«
»Opa hat gesagt, man könnte hier keine Magie gegen andere benutzen, wenn sie es nicht zuvor getan haben. Wir haben Muriel nie irgendeinen Schaden zugefügt, oder?«
»Aber sie ist eine Hexe«, wandte Seth ein. »Warum ist sie eingesperrt, wenn sie nicht gefährlich ist?«
»Ich sage nicht, dass ich sie gehen lassen will. Ich sage nur, dass das vielleicht eine Notsituation ist, in der wir keine anderen Möglichkeiten haben. Es könnte das Risiko wert sein, um Oma zurückzubekommen, damit sie uns helfen kann.«
Seth dachte darüber nach. »Was ist, wenn wir sie dazu bringen können, uns zu verraten, wo Opa ist?«
»Oder beides«, sagte Kendra aufgeregt. »Ich wette, sie würde so ziemlich alles tun, um freizukommen. Zumindest diese beiden Dinge würde sie sicher tun. Dann kämen wir vielleicht aus diesem Schlamassel heraus.«
»Es stimmt, dass wir nicht allzu viele Möglichkeiten haben.«
»Wir sollten erst einmal darüber schlafen«, meinte Kendra. »Wir sind beide vollkommen erledigt. Morgen Früh können wir entscheiden, was wir tun wollen.«
»In Ordnung.«
Kendra stieg in ihr Bett, kroch unter die Decke, ließ den Kopf in das Kissen sinken und schlief ein, noch bevor sie an irgendetwas anderes denken konnte.
»Vielleicht hätten wir die Milch nicht aus unseren Kleidern waschen sollen«, sagte Seth. »Dann könnten wir Butter machen, während wir gehen.«
»Igitt!«
»Vielleicht hätte ich dann jetzt Joghurt unter den Achseln.«
»Du bist ein Psycho«, erwiderte Kendra.
»Dann könnten wir ein bisschen von Lenas Marmelade dazumischen und hätten Fruchtjoghurt.«
»Hör auf damit!«
Seth schien zufrieden mit sich zu sein. Goldlöckchen hockte in einem Jutesack, den er in der Speisekammer gefunden hatte. Sie hatten versucht, den Käfig wieder geradezubiegen, konnten die Tür aber nicht befestigen. Sie hatten den Sack so weit zugebunden, dass die Henne nur ihren Kopf herausstrecken konnte.
Es war schwer, sich das Huhn als Oma Sørensen vorzustellen. Die Henne hatte den ganzen Morgen lang keine einzige großmütterliche Tat vollbracht. Sie zeigte keine Reaktion auf die Ankündigung, dass sie zu Muriel gehen würden, und während der Nacht hatte sie ein Ei auf Kendras Bett gelegt.
Kendra und Seth waren kurz vor Sonnenaufgang aufgewacht. Aus der Scheune hatten sie die Schubkarre geholt, mit der sie Goldlöckchen transportieren wollten. Sie stellten es sich leichter vor, als die Henne den ganzen Weg zu dem Efeuschuppen zu tragen.
Kendra war an der Reihe, die Schubkarre zu schieben. Die Henne wirkte gelassen. Wahrscheinlich genoss sie die frische Luft. Das Wetter war angenehm – sonnig und warm, aber nicht zu heiß.
Kendra fragte sich, wie die Verhandlungen mit Muriel wohl laufen würden. Sie hatten beschlossen, erst einmal abzuwarten, welche Bedingungen sie mit
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