Fabula
Blick. »Es ging nicht anders, Colin, das musst du mir glauben.« Er seufzte und sah schuldig aus. »Du wirst es verstehen, wenn ...«
»Wenn was?«
Er zuckte die Achseln. »Du kennst die Familiengeschichte nicht.«
»Ach, ja? Sollte ich die etwa kennen? Gibt es da etwas, was ich wissen sollte?«
Er nickte. »Einiges.«
»Na, dann schieß mal los, wir haben Zeit.«
Er schaute über die Schulter. »Nein, haben wir nicht. Der wachhabende Polizist ist nur betäubt.«
»Betäubt?«
»Ja, nur betäubt.«
Colin rollte mit den Augen.
Er konnte es nicht fassen.
Livia hatte es doch tatsächlich gewusst.
Sie hatte ihm gesagt, dass sein Vater gar nicht tot sei. Sie hatte es selbst gerade erst erfahren, ehe Colin sie nach Rio Bravo mitgenommen hatte. Wie, das wollte sie ihm später erklären, und es war in diesem Augenblick auch egal, woher sie es wusste, denn die Tatsache, dass Archibald Darcy liier war, zeigte doch nur, wie recht sie gehabt hatte, »Meine Güte, was wird hier eigentlich gespielt?«
Archibald Darcy seufzte. »Jede Familie«, sagte er, »hat ihre Abgründe.«
»Fein, das ist die Neuigkeit des Abends.«
»Du verstehst mich nicht.«
»Nein, das tue ich ganz und gar nicht. Wir haben geglaubt, du seist tot. Und jetzt stehst du hier und erzählst mir etwas über die Abgründe in der Familie.« Colin trat wütend gegen den einzigen Stuhl im Raum, der mit einem lauten Scheppern gegen den einzigen Tisch stieß, auf dem der einzige Becher mit dem einzigen Wasser umfiel. »Wo, verdammt noch mal, kommst du her? Wo hast du gesteckt?«
»Das ist eine lange Geschichte«, murmelte sein Vater.
Colin nahm sich den Stuhl, stellte ihn gerade hin und setzte sich. »Wir haben durchaus Zeit, würde ich sagen.«
Archibald Darcy nahm den Hut ab und setzte sich auf die Pritsche. »Ich musste es tun«, sagte er.
»Was? Abhauen? Deinen Tod vortäuschen?«
»Sie hätte mich nicht gehen lassen.«
»Wer? Mutter?«
Er nickte. »Sie war eine Sherazade.«
»Das weiß ich mittlerweile. Und Danny und ich haben ihr Talent geerbt und sind wirklich ganz außerordentlich überglücklich deswegen.«
»Du verstehst es noch immer nicht.«
»Nein«, fuhr Colin ihn wütend an, »ich verstehe es in der Tat immer noch nicht.«
»Es ist ein Geheimnis«, druckste er herum.
»Was ist ein Geheimnis?«
»Das!« »WAS?«
Er hüstelte. »Weswegen ich damals abgehauen bin.«
»Oh, Mann.« Colin begann ungeduldig zu werden.
»In jeder Familie gibt es doch ein dunkles Geheimnis«, sagte Archibald, und jetzt sah er seinem Sohn in die Augen. Und die Augen, die Colin in der schattenhaft düsteren Zelle anschauten, schimmerten grün und leuchtend schmal wie die kleinen Augen einer Eidechse, die aufmunternd zu zwinkern versucht. »Ich musste von ihr fort. Deine Mutter war immer unerträglicher geworden.«
»Du hättest dich doch scheiden lassen können, wie normale Menschen es tun.«
»Das ging nicht.«
»Ihr hättet euch trennen können.«
Er schüttelte den Kopf. Sein Haar war jetzt so grau wie das Cary Grants in Charade.
»Sie hatte Macht über mich.«
»Das behaupten alle, die sich nicht lösen können.«
»Nein, Colin, sie hatte wirklich Macht über mich.« Er sah seinen Sohn an, und urplötzlich hatte Colin Mitleid mit ihm. Doch da sagte er: »Ich bin ein Kelpie.«
Und Colin fragte: »Was?«
Und Archibald Darcy wiederholte: »Ein Kelpie, ein Geschöpf aus dem Wasser.«
Das war der Augenblick, in dem Colin endgültig die Schnauze voll hatte.
Er stand auf und lief in der Zelle auf und ab, einmal im Kreis durch den Raum.
Noch mal.
Und ein drittes Mal.
Dann setzte er sich wieder hin.
Atmete durch.
»Kannst du das wiederholen?«
»Kann ich.«
»Dann tu's!«, schrie er ihn an.
Archibald Darcy tat wie geheißen: »Ich bin ein Kelpie, und ich lernte deine Mutter in Edinburgh kennen. Auf einem Maskenball der Universität. Wir tanzten miteinander, den ganzen Abend lang, und dann, als es Mitternacht schlug, küsste sie mich, und als ich die Maske auszog, da sah ich aus wie Helens Idol.«
»Cary Grant«, seufzte Colin.
»Ja.«
»Ihr habt geheiratet.«
»Ein Kelpie lebt normalerweise in den Bächen und Flüssen.« Er lachte verlegen. »Jethro Tull hat denen meiner Art damals sogar einen ganzen Song gewidmet.«
Colin fand das nicht witzig.
Nein, darüber konnte er überhaupt nicht lachen.
»Früher hat ein Kelpie Menschen angelockt und sie dann gefressen, doch diese alten Zeiten sind längst vorbei. Heute kann ein Kelpie
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