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Fabula

Fabula

Titel: Fabula Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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die Kutter, die bisher noch schief auf dem Schlick gelegen hatten, erhoben sich nun und streckten wie erwachende Schläfer ihre Masten in den dunkler werdenden Himmel. Die schmutzigen Segel flatterten im Wind, der warm und schwer von Nieselregen war.
    Es roch nach Salz und Schlamm, nach frisch gefangenem Fisch in geflochtenen Körben, nach Bildern, so voller Meer und voller Sehnsucht, dass es Colin schier den Atem raubte, hier zu stehen.
    »Warum bin ich hier?«, fragte er sich selbst.
    Eine Antwort erhielt er keine.
    Doch das war nicht wichtig.
    Wichtig war nur, dass er endlich wieder das Meer riechen konnte. In London war er oft hinunter zur Themse spaziert, doch das war nie dasselbe gewesen. Die Themse roch wie Wasser, das sich nach der offenen See sehnt, aber in Schlamm und Schmutz gefangen ist. Das richtige Meer zu riechen war mit nichts zu vergleichen.
    Er lauschte den fernen Wellen und beobachtete einen Fischkutter, der tuckernd in Richtung Hafen zurückkehrte.
    Hier bin ich daheim gewesen, dachte Colin. Irgendwann einmal ...
    Und jetzt?
    Bin ich in London daheim?
    Er schüttelte den Kopf und fuhr sich mit der Hand durchs Haar, das nass war vom Nieselregen.
    Ja, auch das hatte er vergessen. Den salzigen Regen, der immer in der Luft schwebte.
    Time is an ocean.
    Colin ging zum Wagen zurück und führ den Hang hinauf.
    Er hatte ein Zimmer in einer Pension namens The Ancient Mariner 's Lodge reserviert. Der Name hatte ihm gefallen. Die Pension befand sich auf den Klippen hoch über dem Hafen.
    Irgendwo hier in der Nähe musste der Southern Upland Way beginnen, ein Wanderweg, dem man zu Fuß bis nach Cockburnspath an der Ostküste folgen konnte. Einmal, erinnerte sich Colin unscharf, war er diesen Weg mit seinem Vater gegangen, zumindest ein Stück. Dann hatten sie ein Zelt in einer Senke aufgeschlagen und Tee gemacht, mit Wasser, das sie über einem offenen Feuer zum Kochen gebracht hatten. Sie hatten den Tee getrunken und geschwiegen, das war nie ein Problem gewesen.
    Mit Archibald Darcy hatte man gut schweigen können.
    Damals war Helen Darcy mit Danny schwanger gewesen.
    »Diesmal wird es ein Mädchen«, hatte sie immer gesagt. »Ich weiß es, ganz sicher, eine Mutter spürt so was.«
    Daran erinnerte sich Colin. An die Überzeugung in den Augen seiner Mutter, dass sie nun endlich eine Tochter bekommen würde. Daran und an den Ausdruck in ihrem Gesicht, als es ein Baby mit Penis war, das an einem Tag im September das Licht der Welt erblickte.
    »Du wärst so eine hübsche Deirdre gewesen«, pflegte Helen Darcy später zu Danny zu sagen.
    Colin musste schmunzeln. Danny hatte es gehasst, wenn sein großer Bruder ihn »Deirdre« genannt hatte.
    »Verarsch dich doch selbst«, hatte er ihm zur Antwort gegeben, aber er war ihm nie richtig böse gewesen.
    Hinter einer Kurve erschien die Pension The Ancient Mariner 's Lodge.
    Colin parkte den Rover auf dem Stellplatz vor der Pension, einem kleinen Haus mit niedrigem Dach. Es sah aus, als kauere sich das Haus auf den Klippen an den Boden, um nicht fortgeweht zu werden, wenn im Herbst die Stürme von Irland her wehten. Nur sechs Zimmer gab es in der Pension, die typische Unterkunft, die man hier in dieser Gegend antraf.
    Colin betrat die Pension und befand sich in einem Raum, der klein war und in dem es nach getrockneten Blumen und Holz roch. Ein Collie saß auf dem Boden und musterte ihn neugierig.
    Die junge Frau an der Rezeption hob den Blick. Das dunkle Haar hatte sie mit einem bunten Tuch nach hinten gebunden. Sie sah so aus, wie sie damals ausgesehen hatte.
    »Colin Darcy«, sagte sie und starrte ihn an.
    Colin tat sein Bestes und starrte zurück.
    »Livia.« Mehr brachte er erst einmal nicht heraus. Es war nur ihr Name, doch ihn zu sagen bedeutete kaum weniger, als angekommen zu sein. Colin Darcy wusste das, doch wie es weitergehen würde, das wusste er nicht.
    drittes kapitel
    in dem Colin Darcy sich an Lassie erinnert, ganz und gar ankommt und jemand, der gar nicht will, mit nach Ravenscraig geht
    Sie war das Friedhofskind gewesen, so hatten sie die anderen Kinder früher in der Schule immer genannt. Liviana Lassandri, deren Vater eines der beiden Bestattungsunternehmen von Stranraer geführt und sich außerdem auch noch um die Grünanlagen des Galloway Graveyard gekümmert hatte, wusste genau, wie es sich anfühlte, wenn man von den anderen Teenagern »Lassie« gerufen wurde. Irgendwann hatte sie es mit einem arroganten Blick abgetan.
    »Lassie heißt einfach

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