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Fabula

Fabula

Titel: Fabula Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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sauer.«
    Danny nickte.
    Helen Darcy mochte es nicht, unfolgsame Kinder zu haben.
    »Sie hat dir die Geschichte erzählt.«
    Danny schluchzte nahezu tonlos. Seine kleinen Einger betasteten die Lippen, die zusammengewachsen waren. Mit aufgerissenen Augen flehte er Colin an, etwas zu tun.
    »Komm her!« Colin zog ihn zur Bettkante. Sie setzten sich, und er nahm Danny in die Arme. Colin wusste, dass die Bestrafungen ihrer Mutter sehr ungewöhnlich ausfallen konnten, je nach Missetat. Und er wusste von der alten Geschichte um den Nachbarsjungen, der sein leckeres Mittagessen so oft nicht gegessen hatte und dem deswegen der Mund zugewachsen war. Es war eine Geschichte, die nur ein Lüge sein konnte, und doch war sie wahr. Ja, in Momenten wie diesen, das wusste Colin, konnten Geschichten, auch wenn sie Lügen waren, wahr werden. Und wenn es so weit war, dann musste man zusammenhalten. Dann musste man einander in den Arm nehmen und nach einer neuen Geschichte suchen, einer, die weniger schlimm war als jene, die zur Strafe gedacht worden war.
    »Bruderherz«, flüsterte Colin leise.
    Und begann zu erzählen.
    Es verwunderte ihn immer wieder aufs Neue, wie schnell die Worte Hießen konnten, wenn es sein musste. Als habe er einen Brunnen angezapft, so flössen sie ihm über die Lippen und formten sich zur Geschichte eines stummen Jungen, der auszieht, um seine Sprache zu finden. Er besteht viele Abenteuer in fernen Ländern, und am Ende findet er eine Prinzessin, die ihn küsst, und dann kann er plötzlich wieder den Mund öffnen und sprechen. Am Ende gingen die Geschichten, die Colin erzählte, immer gut aus.
    »Ich habe Angst vor ihr«, flüsterte Danny, als er wieder reden konnte. Er fasste seine Lippen an und konnte kaum glauben, dass es vorbei war. Die Furcht lebte immer noch in seinen Augen, und Colin fragte sich in dem Moment, ob sie jemals verschwinden würde.
    »Du hast mich«, sagte er. »Und ich hab dich.«
    Danny sah ihn an. »Warum macht sie das?«
    Und Colin, der nicht lügen konnte, antwortete: »Ich weiß es nicht.«
    Ich weiß es nicht...
    Nein, er wusste es nicht.
    Er wusste nicht einmal, ob das, woran er sich erinnerte, auch wirklich geschehen war. Es war absurd, musste der Einbildung eines Kindes zugeschrieben werden.
    Jetzt saß Colin in dem grünen Rover, und die Hände zitterten ihm, er war Ende dreißig und fragte sich, ob das, woran er sich erinnerte, so oder anders geschehen war.
    Er wusste es nicht.
    So einfach war das.
    Helen Darcy hatte ihren beiden Söhnen immer Geschichten erzählt, und manchmal, ja manchmal, war das, was ihre Worte heraufbeschworen hatten, sehr greilbar geworden.
    Stimmte das?
    Oder bildete er sich nur ein, dass es einmal so gewesen war?
    Er schüttelte den Kopf und betrachtete die Regentropfen, die dünne und ziellose Rinnsale auf der Windschutzscheibe wurden. Die Welt dahinter war unscharf; erst wenn die Scheibenwischer die Regentropfen beiseitefegten, wurde die Welt wieder so, wie sie wirklich war.
    »Meine Güte, Danny, was ist nur mit mir los?« Colin wusste natürlich, dass er keine Antwort auf diese Frage erhalten würde. »Warum bist du nach Ravenscraig zurückgekehrt?«
    Das war die Frage, die wirklich wichtig war. Die einzige Frage, die es sich zu stellen lohnte.
    »Er hat angerufen, weil er sich nach seiner Mutter erkundigen wollte.« Das hatte Miss Robinson am Telefon gesagt. »Er hatte keine Ahnung, dass Helen verschwunden war. Und ich hätte ihn auch nicht kontaktieren können, weil ich nicht wusste, wo er lebt.«
    Konnte es solche Zufälle geben?
    Danny war den langen Weg aus Amerika gekommen, um nach seiner Mutter zu suchen?
    Warum?
    Das war Blödsinn!
    Er hätte mich anrufen können, dachte Colin. Warum hat er es nicht getan? Ich hätte der Sache nachgehen können. Nun ja, ich hätte es nicht gern getan, aber getan hätte ich es.
    Helen Darcy war nach Stranraer gefahren, um Tee zu kaufen. Sie liebte es, Tee zu kaufen. Das war alles. Ihren Wagen hatte man auf dem Parkplatz vor McGrady's Teeladen gefunden.
    Von Helen Darcy indes hatte es nicht die geringste Spur gegeben. Michael McGrady konnte nur sagen, dass sie ihre Bestellung (Birkenblätter und Kombucha) später am Nachmittag hatte abholen wollen, dann aber nicht mehr erschienen war. Helen Darcy war sprichwörtlich vom Erdboden verschwunden.
    Zwei Tage vergingen, und dann informierte Miss Robinson die Polizei, die den Vorfall erst einmal aufnahm, Mrs. Darcy aber noch nicht als vermisst klassifizierte. Man

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