Fabula
müsse abwarten, sagte man ihr. Vielleicht werde Mrs. Darcy wieder auftauchen. Ja, so etwas komme vor, öfter als man denke.
Dann hatte sich Danny gemeldet.
Nach all den Jahren hatte er sich nach dem Wohlbefinden seiner Mutter erkundigen wollen, einfach so. Er hatte sich seit Jahren nicht einmal an ihrem Geburtstag gemeldet, warum also hätte er es jetzt tun sollen?
Colin schnaubte und kurbelte das Fenster herunter.
Warme, fern nach dem Salz des Meeres riechende Luft schwappte ihm entgegen wie eine Welle, die ihn gern hätte fortspülen dürfen.
Im Radio lief Further on up the road von Bruce Springsteen.
»Was hast du von ihr gewollt?« Weshalb hatte er sie angerufen? Was sollte das alles?
Colin startete den Motor und steuerte den Rover auf die Straße. Heute Abend würde er in Portpatrick bleiben und erst morgen nach Ravenscraig fahren.
Am späten Abend wollte er nicht dorthin.
Nicht heute, nicht jetzt.
Eigentlich nie ...
Er fuhr weiter und weiter, und irgendwann kam eine Weggabelung, die er nur zu gut kannte. Er kannte den Weg, der nach Ravenscraig führte, doch statt ihn einzuschlagen, folgte er weiter der A77 und bemerkte erst, als ihm zwei entgegenkommende Autofahrer wütend und wild gestikulierend zu verstehen gaben, gefälligst langsamer zu fahren, dass sein Fuß ganz fest am Gaspedal klebte.
Nur wenige Autos verkehrten auf dieser Strecke, und doch war es keine ungefährliche Straße.
Colin reduzierte die Geschwindigkeit. Er drehte das Radio lauter und folgte der Straße, die ihn tiefer und immer nur tiefer in das vergessene Land seiner Kindheit hineinführte.
Die Zeit flog nur so dahin, und er musste an das Aquarell von Eugene Delacroix denken, jenes berühmte romantische Bild, auf dem der Reiter von den Hexen durch die Nacht gejagt wird: Tom o 'Shanter, von Hexen verfolgt , so hieß es.
Wolken wie dunkle Watte trieben am Himmel entlang.
Schottisches Wetter, dachte er, manches ändert sich eben nie.
Dann sah er Port Phädraig, wie die Gälcn den Ort getauft hatten. Er war angekommen.
Es war der Ort, der Ravenscraig am nächsten war.
Meine Güte!
Er konnte es nicht fassen! Wieder hier zu sein, die Dinge zu wissen, die man ihm gesagt hatte ...
Danny war nach Ravenscraig zurückgekehrt. Er war den ganzen Weg aus Amerika nach Prestwick gekommen, weil seine Mutter verschwunden war, und dann hatte er für eine einzige Nacht Quartier in seinem alten Zimmer bezogen. Darauf, so Miss Robinson, habe er bestanden. Allein das machte Colin schon stutzig. Dann, am nächsten Morgen, sei er nach Stranraer gefahren, doch habe ihn dort niemand gesehen. Müde habe er gewirkt, ausgezehrt und irgendwie traurig. Ja, genau das waren die Worte, die Miss Robinson benutzt hatte: irgendwie traurig.
Colin seufzte.
Vor ihm erstreckten sich die Häuser von Portpatrick.
Einst war dies der Ort gewesen, an dem die Waren aus Irland auf ihrem Weg nach Dumfries umgeschlagen wurden. Schiffe mit Vieh (Kühen, Schafen, Hühnern, Schweinen) kamen hierher, Schiffe mit Kisten und Getreide und vielen, vielen anderen Dingen, doch dann etablierten sich viele neue Schifffahrtslinien, die viele neue Hafenstädte wachsen ließen. Die rauen Westwinde erschwerten es zudem den großen Schiffen, den Hafen anzulaufen.
Stranraer, gelegen am kleinen Loch Ryan, ein Stück weiter nördlich am Eingang zu den Rhinns of Galloway, wurde schnell der größte Hafen in der Gegend. Die Eisenbahnstrecke von Portpatrick nach Stranraer wurde erst in den 50er-Jahren komplett stillgelegt, der Fährverkehr schließlich vollständig eingestellt, und der kleine Ort wurde wieder das, was er einmal gewesen war: eine abgelegene Ansammlung von Häusern, die sich, alt und noch immer voller Würde, an die Hänge schmiegten, die jene Bucht bildeten, die einst so bedeutsam gewesen war.
Das Meer zu sehen tat gut.
So gut.
Fast hätte Colin Darcy erneut angehalten, um wenigstens einmal tief durchzuatmen, doch dann entschied er sich anders.
Er lenkte den Rover durch die enger werdenden Straßen bis hinunter zum Hafen. Aus den Augenwinkeln heraus nahm er die Skyline auf den Klippen wahr, all die kleinen Häuser, die schon vor mehr als hundert Jahren dort gestanden und in all den Jahrzehnten trotzig den eisig kalten Winden und der salzig warmen Luft standgehalten hatten.
Time is an ocean but it ends at the shore.
Bob Dylan hatte es erkannt.
Am Hafen angekommen stieg Colin aus und ging zur Kaimauer, sah lange aufs Meer hinaus. Die Flut füllte das Hafenbecken, und
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