Fabula
nur junges Mädchen«, pflegte sie sachlich jedem zu antworten, der sie nach dem Namen fragte. »Kann sein, dass es etwas mit meinem italienischen Namen zu tun hat, aber ich glaube nicht, dass sich die Dorfziegen und Torfstecherhühner, die mich so rufen, ihre kleinen Gehirne zerbrochen haben, Lim hinter die Bedeutung dieses Namens zu kommen.« Sie konnte richtig bissig sein, daran erinnerte sich Colin Darcy noch gut. Und was immer sie auch behauptete, sie hasste es, wenn sich jemand über sie lustig machte und den Namen ihrer Familie verunglimpfte.
»Lassandri ist ein schöner Name«, hatte sie einmal gesagt, »er erinnert mich an die Melodien, die meine Mutter gesungen hat, als ich klein war.«
»Du hast sie also doch gekannt?« Colin war überrascht gewesen, als sie ihm das gesagt hatte.
»Nein, aber ich erinnere mich an die Lieder.« Mit ihren braunen Augen hatte sie ihn angeschaut und jeden Zweifel, es könne anders sein, im Keim erstickt.
»Also hat dein Vater dir doch etwas über deine Mutter erzählt?« Colin und Livia waren noch kein Paar gewesen, als er ihr die Frage gestellt hatte. Alles, was er wusste, war, dass der Bestatter mit italienischer Abstammung, der immer dunkle Anzüge, weiße Hemden mit steifen Kragen und schwarze Krawatten trug, das Mädchen ganz allein großgezogen hatte. Das war es, was sich die Leute erzählten. Das war es, was Livia ihm erzählt hatte. Bs hatte nie eine Mutter gegeben, nie war eine Mrs. Lassandri in den Straßen von Stranraer gesichtet worden.
»Nein, hat er nicht. Er hat nie von ihr gesprochen.«
»Aber woher ...?«
Sie hatte den Kopf geschüttelt und dann gelächelt. »Du weißt doch, was die anderen sagen. Ich bin das Totenmädchen vom Galloway Graveyard, die Göre, die schon zwischen den alten Grabsteinen gespielt hat, als sie noch ganz klein war.« Sie hatte sich zu ihm gebeugt, ganz verschwörerisch, damals in dem muffigen Pub in Stranraer, wo es nach Guinness, Rauch und angetrunkenen Schotten gerochen hatte. »Ich kann so was, Colin, glaub's mir einfach. Ich kann Dinge spüren, die sonst niemand spürt.« Und Colin, der nie richtig wusste, ob sie es ernst meinte, hatte genickt und die Sache auf sich beruhen lassen. Wenn Livia Lassandri behauptete, Melodien zu hören, dann war das eben so.
Wie lange war das jetzt her?
Zwanzig Jahre?
Mehr?
Colin war fünfzehn gewesen, als er ihr zum ersten Mal begegnet war. Und Livia war ein .Jahr älter. Es war in einer anderen Zeit und in einer anderen Welt gewesen.
Dann hatten sich ihre Wege getrennt.
Jetzt stand sie vor ihm, einfach so, hinter der Rezeption in dieser kleinen Pension auf den Hügeln von Portpatrick, und sie sah ihn an, wie sie ihn damals angesehen hatte.
»Wo hast du gesteckt?«, fragte sie in einem Tonfall, als sei er vor einer Stunde zum Einkaufen aufgebrochen. Als habe er sich nur verspätet und sei niemals richtig fort gewesen.
»London«, sagte Colin nur. Er spürte, wie seine Stimme krächzte.
Sie murmelte: »London, aha.«
»Ich wusste nicht, dass du hier arbeitest.«
»Tu ich auch nicht, ich helfe nur aus.«
»Ach so.«
Der Collie stand auf und kam auf Colin zu, stupste ihn mit der Nase an und schnüffelte an seinen Schuhen.
»Das ist Lassie«, sagte Livia.
»Dachte ich mir, irgendwie.«
»Er gehört George.«
»Wer ist George?«
»George ist Georgina, und Georgina arbeitet normalerweise hier. Sie ist die Tochter des Hauses, sozusagen. Es ist ihr Collie.«
Sie sahen einander an.
Der Hund bellte fröhlich.
Livia musste lachen, und Colin stimmte ein.
»Im Ernst, warum bist du hier, Colin Darcy?«
Noch immer durchfuhr ihn ein angenehmer Schauder, wenn sie seinen Namen aussprach. Es war ein Gefühl, das er fast schon vergessen hatte. Die braunen Augen ruhten auf ihm und schienen dorthin sehen zu können, wohin nicht einmal Colin selbst zu blicken wagte.
»Meine Mutter ist verschwunden«, sagte er.
»Gut so.«
»Ich meine, deswegen bin ich hier.«
»Du bist zum Feiern gekommen?«
Er zog ein Gesicht. »Ahm, nein, nicht wirklich.«
»Du willst nach ihr suchen?«
Er nickte.
»Dann wünsche ich dir, dass du sie niemals mehr findest.« »Du hast sie schon damals nicht gemocht«, sagte Colin. Livia sah ihn an. »Du auch nicht, Colin Darcy. Du auch nicht.«
Er schwieg und streichelte Lassie. Das Fell war weich, und Colin dachte daran, dass er den Film mit Elizabeth Taylor immer gemocht hatte und den mit dem kleinen Timmy und dem Ranger gar nicht (wenngleich er das Auto, das der
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