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Fabula

Fabula

Titel: Fabula Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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seinem Zimmer oben unter dem Dach verbracht hatte, an die er sich gern erinnerte und die mehr als alles andere Kindheit für ihn waren.
    Du hast Geschichten erzählen wollen , wisperte eine Stimme, irgendwo von weit, weit her, eine Stimme, die es nicht mehr gab. Der ruhige Junge, der damals noch keine Koteletten getragen und das lockige Haar kurz geschnitten gehabt hatte, rief ihm dies aus der allertiefsten Kindheit und Jugendzeit zu, jetzt, da Colin den Rover nach Portpatrick lenkte, Koteletten trug, unruhig war und sich vereinzelt die ersten grauen Strähnen in den widerspenstigen Locken zeigten.
    Ja, er hatte gern gelesen, und, ja, er hatte gern Geschichten erfunden.
    Es fiel ihm ein, kaum dass er Stranraer hinter sich gelassen hatte, und er fragte sich, wie er es jemals hatte vergessen können. Damals, als er ein Kind gewesen war und Danny ganz klein, da hatte er ihm immer selbst erfundene Geschichten erzählt. Sie hatten auf der Bettkante gesessen oder waren durch den Garten geschlendert, und irgendwie war die Welt zu einem magischen Ort geworden, wenn Colins Worte durch die Luft geschwebt waren. Und später dann, als Danny größer und Colin noch größer gewesen war, da hatte Danny zu singen begonnen. Stundenlang hatte er auf seiner Gitarre Melodien von Bono Vox und The Edge, den Chieftains, Bruce Springsteen und, wieder und wieder, Bob Dylan und Joan Baez geklampft und später dann immer öfter eigene Lieder komponiert.
    Dann kehrte ein anderes Bild zu Colin zurück.
    Er musste anhalten, weil es ihm schwindelte und er sich fragte, was wirklich geschehen war an jenem Tag.
    Er schloss die Augen.
    Atmete tief durch.
    Die Erinnerung sprang ihn an wie ein Tier, das nur auf diesen Moment gelauert hatte.
    Er sah es vor sich, so klar, als sei es gestern gewesen.
    Danny hatte keinen Mund mehr gehabt. Er war fünf Jahre alt gewesen, Colin sah seinem dreizehnten Geburtstag im kommenden Monat entgegen, und in seiner Klasse war ein Mädchen, das er mochte. Es war ein Sommertag, und ein sanfter Nieselregen hing wie ein Vorhang über Ravenscraig. Colin saß an seinem Schreibtisch und machte die Hausaufgaben, als Danny stumm weinend in sein Zimmer gerannt kam. Die Tränen rannen ihm dick übers Gesicht, und er gestikulierte wild wie ein Verrückter mit den Armen, weil sein Mund verschwunden war. Die dunklen Augen, die wie Colins waren, hatte er weit aufgerissen. Tiefdunkle Panik schrie darin wie am Spieß. Er fasste sich andauernd mit den kleinen Händen ins Gesicht, doch da, wo der Mund hätte sein müssen, waren die Lippen zusammengewachsen.
    »Danny, meine Güte, was ist passiert?« Mathematik war vergessen, ebenso alles andere. Colin nahm seinen Bruder in die Arme und spürte die Furcht, die den kleinen Körper zittern ließ. Die dicken Tränen seines kleinen Bruders benetzten ihm das T-Shirt, und er konnte nichts anderes tun, als ihm über den Kopf zu streichen, wie er es immer tat, wenn der Kleine aufgeregt war. Bloß war er jetzt nicht aufgeregt, nein, er war verzweifelt. »War Mama das?« Die Frage zerschnitt die schwüle Luft im Raum wie ein scharfes Messer das Glück.
    Danny sah ihn nur an und nickte.
    »Oh, Danny.«
    Der kleine Danny machte eine Handbewegung.
    »Das Telefon?«
    Ein schnelles Nicken.
    »Hat jemand angerufen?«
    Danny nickte und heulte weiter.
    Dann gestikulierte er wie wild, und es sah aus, als würde er etwas essen, als hielte er einen unsichtbaren Löffel in der rechten Hand, den er schließlich wegwarf, und dann stampfte er mit den Füßen auf den Boden und spielte seinem großen Bruder vor, wie wütend er gewesen war. Abschließend machte er wieder die Telefon-Bewegung.
    »Du hast es nicht gegessen.«
    Danny nickte, senkte den Blick, weinte weiter.
    »Der Kindergarten hat angerufen, und sie haben sich beschwert, weil du wieder nichts zu Mittag gegessen hast.«
    Erneutes Nicken. Normalerweise steckte sich Danny, wenn er an das Mittagessen im Kindergarten dachte, den Einger in den geöffneten Mund, als wolle er sich übergeben. Colin musste immer lachen. Ihre Mutter tat das nicht. Helen Darcy fand es nicht witzig, wenn einer ihrer Söhne in ihrer Gegenwart Kotzgesten machte.
    Miss O'Meany, die Erzieherin in Dannys Gruppe, die es als sportliche Betätigung ansah, bei den Kindern nach versteckten Essstörungen, frisch geschlüpften Läusen und neu gelegten Nissen zu suchen, rief gern bei den Eltern an, um sich dann ausführlich über ihre Einschätzung der Situation auszulassen.
    »Mama war

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