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Fabula

Fabula

Titel: Fabula Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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Ranger gefahren hatte, faszinierend gefunden hatte).
    »Ich weiß«, sagte er schließlich.
    Ja, sein Verhältnis zu Helen Darcy war schon immer ein sehr spezielles Verhältnis gewesen. »Bist du schon dort gewesen?« »In Ravenscraig?« Sie nickte.
    »Nein, ich gehe morgen hin.«
    »Und heute Nacht bleibst du hier?«
    Erneutes Nicken seinerseits.
    »Wir können reden, heute Abend. Ich habe um acht Uhr frei.«
    Sie konnte einem schon immer Wünsche von den Augen ablesen, dachte Colin.
    Dann wurde sie konkreter: »Wir müssen reden, nach all der Zeit. Nach allem, was passiert ist. Du erinnerst dich bestimmt nicht mehr an alles.«
    »Was meinst du?«
    Sie schnippte mit den Fingern. »Genau das «, sagte sie. »Genau das meine ich. Du erinnerst dich nicht.« Sie schluckte. »Ich schon. Naja, nicht an alles, aber an genug.« Sie senkte den Blick und suchte nach dem Gästebuch. »An zu viel.«
    »Du bist einfach fortgegangen«, sagte Colin. »Ich hatte keine Ahnung, wo du steckst.«
    »Ich hatte Angst.«
    »Vor mir?« Was für eine dumme Frage!
    »Vor deiner Mutter.«
    Colin musste an den Tag denken, an dem sie sich das erste Mal begegnet waren. An die düsteren Wolken und den leichten Regen und den Geruch ihres Haars im Herbstwind. Man konnte kaum ausmachen, wo das Meer endete und der Horizont begann. Es war alles grau an diesem grauen Tag.
    »Wie lange ist er her?«, fragte er.
    »Tausendundein Jahr«, antwortete Livia, und Colin wusste genau, wie sie es meinte. »Vielleicht auch mehr.«
    Alles war noch da, noch immer.
    Und Colin war, als sei kein einziger Tag vergangen seitdem. Seit er sie auf dem Friedhof getroffen hatte, an jenem seltsamen Tag, an dem Danny so geweint hatte.
    Galloway Graveyard.
    Dort war es gewesen, dorthin war er geflüchtet.
    Damals.
    Und er fragte sich, ob es diesen Ort noch immer gab, und, wenn ja, ob er noch genauso aussah wie damals.
    Galloway Graveyard.
    Fast wie ein magisches Wort kam es ihm in den Sinn und zauberte die Bilder von einst ans Tageslicht.
    Der Galloway Graveyard nahe Black Head war ein unwirtlicher Ort, an dem man Raben und Möwen treffen konnte, selbst an sonnigen Tagen. Die Stille dort war wie Balsam, und das Rauschen der Wellen, das zu hören man sich schnell einbildete, wurde vom Wind verflochten mit dem Rascheln der Zweige, die an den großen Grabsteinen und kleinen Grabmalen entlangschabten, als wollte die Natur selbst ein Konzert geben für das Stelldichein der grauen, stummen Erinnerungen, die jemand mit Hammer und Meißel im Stein verewigt hatte.
    Von Ravenscraig aus konnte man einem gewundenen Fußweg durch die Hügel und entlang der Klippen folgen.
    Keine halbe Stunde dauerte es, die Mauer zu erreichen, die mit Moos und Gras bewachsen war.
    Hier hatte Colin Darcy das Friedhofsmädchen kennengelernt. An einem grauen Tag, dessen Grau so grau gewesen war, wie ein Grau nur jemals hatte sein können. Auf dem alten Friedhof war er ihr über den Weg gelaufen, und kein Ort hätte passender sein können.
    »Du bist neu hier.«
    Er hatte auf einem Grabstein gesessen, weil er allein sein wollte. Und sich erschrocken, weil er sie nicht bemerkt hatte. Er hatte einfach nur ruhig dagesessen und versucht, die Tränen zurückzuhalten, die schon auf dem Weg hierher höchst unangenehme Gefährten gewesen waren.
    Schnell wischte er sich den Anflug seiner Schwäche aus dem Gesicht, holte tief Luft und nahm allen Mut zusammen.
    »Ich bin Colin«, stellte er sich dem Mädchen vor, das im Geäst einer alten Eiche hockte und ihn beobachtete. »Colin Darcy. Aus Ravenscraig.«
    Sie trug einen übergroßen Schlapphut, abgewetzte Jeans, einen grünen Parka und schwere Schnürstiefel, die einmal braun gewesen sein mochten. »Hallo, Colin, Colin-Darcy-aus-Ravenscraig->Du-bist-neu-hier<.«
    »Ja, und?«
    Sie sprang vom Ast und landete auf beiden Füßen, wie eine Katze. »Ich bin Liviana Lassandri.«
    »Hallo Livia.«
    Sie hielt ein Einmachglas in der rechten Hand, das hatte er vorher nicht bemerkt. »Das sind Oliven«, sagte sie. Dann öffnete sie das Glas, nahm eine einzige heraus und legte sich die Olive auf den Handrücken. »Kannst du das?« Sie schlug sich mit der anderen Hand auf den Unterarm, sodass ihr Arm wie ein Katapult war und die Olive in die Luft geschleudert wurde. Sie verfehlte den Mund des Mädchens, prallte ihm stattdessen gegen die Stirn und kullerte dann beleidigt zwischen den Grabsteinen hindurch ins Gebüsch und war fort. »Gar nicht so einfach, wirklich.« Sie lachte,

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