Fabula
schottische Wetter hatte sich während der vergangenen Stunden nicht geändert. Noch immer hing ein Nieselregen in der Luft. Dafür war die Luft frisch und ein wenig kühl.
Livia führte ihn also hinunter zum Leuchtturm, der ein uraltes Gemäuer war, erbaut aus massigen Quadern und mit kleinen Fenstern versehen, die kaum mehr als Gucklöcher waren.
»Er ist verlassen«, sagte sie und deutete zur morschen Tür.
»Sie sieht noch immer massiv aus.«
»Du kannst sie aber leicht öffnen.« Sie zog Colin hinter sich her. Als sie beim Leuchtturm ankamen, drehte Livia einen der Steine, die sich aus der Mauer gelöst hatten und im hohen Gras lagen, um und hielt einen Draht in den Händen. »Für alle Fälle«, sagte sie. Sie ging auf die Tür zu, und dann fuchtelte sie mit dem Draht in dem rostigen Schloss herum. Irgendwo gab es knackende, klickende und klackende Geräusche, Livia drückte die Klinke, schob die Tür auf und sagte: »Willkommen, Colin Darcy, willkommen im alten Turm von Black Head.«
Colin folgte ihr.
Drinnen war es ziemlich kalt. Es roch nach Stein und Staub und vielen Stufen, die nach oben führten. Livia kannte sich hier aus. »Ich komme oft hierher, obwohl es verboten ist«, sagte sie und zog Colin hinter sich her, die Treppe hinauf.
»Wie alt ist der Turm?«
»Uralt.«
Colin fragte sich zum ersten Mal in seinem Leben, ob dies einer der Leuchttürme war, die Robert Louis Stevenson einst entworfen hatte.
Dann kehrten seine Gedanken in die Gegenwart zurück. »Was würde dein Freund, der Constable, dazu sagen, wenn er dich hier erwischen würde?«
»Er wäre bestimmt nicht sehr angetan«, lachte sie laut und schallend. »Davon abgesehen würde er uns beide erwischen. Und außerdem ist er jetzt dein Freund.«
Colin zog ein Gesicht.
Er stieg folgsam Stufe um Stufe hinter ihr hinauf. Es war eine enge Wendeltreppe, und er musste andauernd den Kopf einziehen, um ihn sich nicht an der niedrigen Decke zu stoßen.
Dann, endlich, waren sie oben.
Der Raum war nicht sehr groß, und das alte Leuchtfeuer war nur noch ein großes und rostiges Gebilde mit allerlei Gewinden und Zahnrädern und Schrauben, die seit langer, langer Zeit kein Mensch mehr bewegt hatte. Da, wo früher einmal Lichtzeichen in die Nacht geschickt worden waren, war jetzt nur kaltes Schweigen und dämmernde Finsternis. Nur ein paar äußerst kümmerliche Strahlen des kühlen Sonnenlichts drangen noch durch die Fensterschlitze in der Mauer nach drinnen.
»Früher waren hier richtig große Fenster«, erklärte Livia, »doch dann haben sie alles zugemauert oder zumindest verkleinert.« Sie ging zu einem der winzigen Fenster. »Du kannst das Meer trotzdem sehen.«
Colin trat neben sie.
»Schau, da drüben ist Portpatrick, und irgendwo da hinten liegt...«
Ravenscraig] »Ja, ich weiß«, sagte Colin schnell. »Lass es dort drüben liegen. Es soll uns nicht kümmern, nicht jetzt.«
»Ist gut.«
Sie lehnte sich gegen ihn, und gemeinsam schauten sie zur See hinaus.
Die Brandung schlug tosend gegen die steilen Klippen. Zu ihrer Linken breitete sich der Strand aus, wie ein Teppich aus Sand, der die See berührt und dem man bis nach Portpatrick folgen konnte, wenn man wollte. Doch hier, vor dem Leuchtturm, waren die Klippen steil und der Boden felsig.
»Es muss einsam gewesen sein für die, die hier gearbeitet haben«, sagte Colin nach einer Weile.
»Ist es an der London Business School etwa nicht einsam?«
»Doch.« Er wunderte sich darüber, wie schnell ihm die Antwort darauf über die Lippen gekommen war. »Doch, da ist es auch einsam. Und wie.«
»Willst du wieder zurück?«
»Zum London-Leben?«
Sie nickte.
Er wollte gerade etwas sagen, als sie sich schnell zu ihm umdrehte und ihm den Finger auf die Lippen legte. »Es gibt nur eine einzige Antwort, die richtig ist, das weißt du. All die anderen Antworten, wie immer sie auch aussehen mögen, will ich gar nicht hören.«
Jetzt nickte er, ganz stumm.
»Und?«
»Manche Veränderungen ereilen einen einfach«, sagte Colin nur. »Ich habe mein Leben immer sorgfältig geplant. Ich wollte nichts dem Zufall überlassen.« Er sah seine Augen in ihren schwimmen. »Kennst du die Geschichte vom Leuchtturmwärter und der Meerjungfrau?«
»Nein, kennst du sie?«
»Ja, ich kenne sie.« Er wusste selbst nicht, wie ihm geschah. Er kannte die Geschichte wirklich, obwohl er sie nie zuvor gehört hatte. Sie war da, als habe sie nur darauf gewartet, erzählt zu werden.
»Seit wann kennst du
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