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Fabula

Fabula

Titel: Fabula Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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schloss sich die Lücke in der Wolkendecke so schnell, wie sie sich geöffnet hatte. Die Sonnenstrahlen verschwanden und mit ihnen die tanzenden Meerwesen.
    »Haben wir das wirklich gesehen?«, fragte Livia. Ungläubig starrte sie auf die Stelle im Meer.
    »Ich denke schon.«
    Sie drehte sich zu ihm um. »Wie hast du das gemacht?«
    »Ich weiß es nicht«, sagte Colin.
    Sie schaute erneut aus dem Fenster. »Ich habe das nicht geträumt, oder?!« »Nein.«
    »War das deine Antwort?«
    Er nickte. »Ja, ich denke, das war sie. Irgendwie schon.«
    Sie fiel ihm um den Hals, und Colin hielt Livia einfach nur fest. Er wusste, dass er das vor Jahren schon hätte tun sollen. Aber er wusste jetzt auch, dass sich Gelegenheiten, die man einst verpasst hatte, neu ergeben konnten, um einen nachholen zu lassen, was nachgeholt werden wollte.
    Dann verließen sie den Leuchtturm mit all dem Zauber, der dort lebte, und gingen am Strand entlang zurück zu der Stelle, an der Colin den grünen Rover geparkt hatte.
    »Wie kommst du normalerweise hierher?«, fragte Colin. Der Mini, der schwarz war, stand, das hatte er gesehen, neben der Kate.
    »Mit dem Fahrrad«, sagte sie. »Dann habe ich auch kein Problem mit der Geschwindigkeit.« Sie schaute erneut nach hinten zum Meer, doch jetzt konnte man dort keine delphinartigen Wesen mehr erkennen. Sie waren mit Colins Worten verschwunden.
    Den Rest der Strecke legten sie schweigend zurück. Beide hingen sie ihren Gedanken nach, und beider Gedanken kreisten um die gleiche Sache. Colin konnte nicht erklären, weder Livia noch sich selbst, wie es dazu hatte kommen können. Er war sich sicher, die beiden Meerwesen dort draußen gesehen zu haben. Da gab es keinen Zweifel, sie waren zwischen den Felsen getaucht und waren wie Delphine aus dem Wasser gesprungen. Und die beiden waren dort gewesen, weil Colin ihre Geschichte erzählt hatte, eine Geschichte, die er bis zu dem Augenblick, in dem er sie erzählt hatte, noch gar nicht gekannt hatte.
    Ja, er erinnerte sich jetzt auch an Rio Bravo. Er wusste, dass er Danny viele Geschichten von diesem Ort erzählt hatte und dass diese Geschichten, die nicht mehr als äußerst kunstvoll gesponnene Lügen gewesen waren, ihnen beiden geholfen hatten, sich aus der Umklammerung Helen Darcys zu befreien.
    Colin erinnerte sich jetzt wieder an so viele Dinge, und an ebenso viele Dinge erinnerte er sich noch immer nicht.
    Er dachte an seine Mutter und an den Tag, als er Livias wütenden Vater aufgesucht hatte. Die beiden hatten in einem einfachen kleinen Haus am Ortsrand von Stranraer gelebt, einem Haus mit einem spitzem Dach, einem Vorgarten voller Blumen und viel, ganz viel, Efeu an den Wänden. Colin war vorher noch nie dort gewesen, jedenfalls hatte er das Haus nie betreten. Er hatte Livia einige Male nach Hause gebracht, wenn es später geworden war. Sie hatte sich dann meistens mit einem Kuss dafür bedankt, dass er sie begleitet hatte, und dann war sie im Haus verschwunden.
    Colin kannte auch ihren Vater, allerdings nur aus der Ferne.
    »Du hast ihr etwas Unsägliches angetan!« Das war es, was Giovanni Lassandri ihm zum Vorwurf machte. »Ich habe mein Kind noch niemals so gesehen, und du bist schuld daran.«
    »Was ist denn passiert?« Colin konnte nicht verstehen, w'ovon er sprach.
    Livia hatte sich seit Tagen nicht mehr gemeldet. In der Schule war sie auch nicht mehr gesehen worden, und die Orte, die sie normalerweise aufsuchte, waren verwaist.
    »Es geht ihr ganz furchtbar elend.«
    »Was ist denn los?«
    »Das geht dich gar nichts mehr an!«
    »Ich ...«
    »Sie ist fort, und du wirst sie nie wiedersehen.«
    Colin spürte, wie seine Welt kippte.
    »Aber ...« Er hatte doch nichts getan.
    »Verschwinde!« Giovanni Lassandi starrte ihn hasserfüllt an, und Colin erschauderte, weil er von einem fremden Menschen noch nie zuvor auf diese Weise angestarrt worden war. »Verschwinde und lass dich hier nie wieder blicken.«
    Colin, der selten mutig war, nahm all seinen Mut zusammen. »Ich muss sie aber sehen.« Wir lieben uns, wollte er sagen, murmelte dann aber nur ein unsicheres: »Ich denke, dass auch sie das will.«
    Giovanni Lassandri warf ihm nur einen bösen Blick zu, ging kurz ins Haus zurück, und Colin fragte sich einen Augenblick lang, ob er vielleicht doch mit Livia zurückkehren würde. Stattdessen hielt er plötzlich einen Schürhaken in der Hand, den er drohend hin und her schwang.
    »Verschwinde!« Er zischte dieses eine Wort, nur: »Verschwinde!«,

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