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Fabula

Fabula

Titel: Fabula Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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sie?«
    »Sie ist mir gerade eben eingefallen.«
    Sie dachte darüber nach, und es schien ihr zu gefallen, dass er das gesagt hatte. »Ist die Geschichte die Antwort auf meine Frage?«
    »Ich weiß nicht, vielleicht.«
    »Erzähl sie mir, bitte.«
    Ihr Haar roch noch immer nach der roten Seife mit den weißen Streifen.
    »Es war einmal ein Leuchtturmwärter«, begann Colin, »ein junger Leuchtturmwärter, der verliebte sich in eine hübsche Meerjungfrau, die jeden Abend, wenn die Dämmerung nahte, zu den großen, spitzen Felsen vor dem Leuchtturm geschwommen kam. Der Leuchtturmwärter sah ihr zu, wenn sie in den Lichtkegeln, die das Leuchtfeuer über der See ausbreitete, wie ein Delphin ihre Tänze aufführte. Wenn er dies tat, dann fühlte er sich glücklich wie sonst nie, denn er hörte eine Melodie, die sonst niemand hören konnte. Es waren die Lieder, zu denen die Meerjungfrau ihre Wassertänze tanzte.«
    Livia lauschte seinen Worten und hatte die Augen jetzt geschlossen.
    »Geht es gut aus?«, wollte sie wissen.
    »Eines Tages beschloss der Leuchtturmwärter, ins Dorf zu gehen. Dort lebte eine alte Frau, die seltsame Dinge wusste. Manche behaupteten, sie sei eine Hexe.«
    »War sie eine?«
    Er zuckte die Achseln. »Sie wusste die geheimnisvollen Dinge, die der Leuchtturmwärter in Erfahrung bringen wollte, das sollte genügen. Sie sagte ihm, dass er durchaus mit der hübschen Meerjungfrau schwimmen könne. Dafür müsse er aber sein Leben im Leuchtturm aufgeben, das sei der Preis, und er werde niemals mehr dorthin zurückkehren können.« Colin Darcy fragte sich staunend, woher er all das nur wusste, und erzählte weiter. »Der Leuchtturmwärter, der verliebt und trotzdem ein pflichtbewusster Leuchtturmwärter war, überlegte tagein und tagaus, was er tun könnte, um sein Ziel zu erreichen. Er überlegte sich, wie er die Gerätschaften im Leuchtturm umbauen könnte, damit sie auch ohne ihn ihren Zweck erfüllen würden. Er fragte sich, ob es nicht doch eine zu große Gefahr für die Schiffe sei, wenn er seinen Posten, den er schon seit Jahren besetzte, verlassen und den Leuchtturm sich selbst überlassen würde. All diese Fragen und noch viele andere stellte er sich.« Colin wunderte sich, wie schnell ihm die Worte über die Lippen kamen. »Dann, eines Abends, als der Leuchtturmwärter mit dem Boot zum Leuchtturm fuhr, kam ein Sturm auf, und eine Welle brachte das Boot zum Kentern. Der Leuchtturmwärter versuchte zu schwimmen, doch seine schweren Stiefel und die Kleidung, die sich vollgesogen hatte, zogen ihn in die Tiefe hinunter. Er spürte, wie ihm die Luft wegblieb. Und dann sah er sie. Sie war wunderschön, und er wusste sofort, dass alles andere unwichtig geworden war. Die Meerjungfrau kam zu ihm und nahm ihn bei der Hand. Sie küsste ihn, und als sie das getan hatte, da verstand er ihre Sprache. Sie küsste ihn erneut, und da konnte er unter Wasser atmen. Sie küsste ihn ein drittes Mal, und mit diesem Kuss schenkte sie ihm ihr Herz.«
    Livia lauschte nur, mit großen Augen.
    »Der Leuchtturmwärter war glücklich wie nie zuvor in seinem Leben.«
    »Ist er bei ihr geblieben?«
    »Fortan tanzten sie jede Nacht im Licht, das der Leuchtturm auf die See hinausschickte. Kein einziges Schiff zerschellte an den Klippen, denn es gab schon bald einen neuen Leuchtturmwärter, der alles regelte, was es zu regeln galt. Der verliebte Leuchtturmwärter aber, der ein Wesen wie die Meerjungfrau geworden war, sah, dass er sich all die Gedanken, die ihn schier hatten verzweifeln lassen, umsonst gemacht hatte. Es wurde alles gut, so einfach war das. Und der neue Leuchtturmwärter sah jedes Mal, wenn er in der Dämmerung die Lichter einschaltete, wie die zwei Wesen, die nicht Mensch und nicht Fisch waren, dafür aber so glücklich, dass man es ihnen ansehen konnte, im Schein des Leuchtturms in den Wellen tanzten.«
    Livia starrte ihn an. »Das ist deine Antwort?«
    Colin schüttelte den Kopf. »Da, schau!«
    Draußen, in den Wellen, sprangen zwei Meerwesen, eine hübsche Frau und ein Mann, im Sonnenlicht, das in eben diesem Moment durch die Wolken brach, aus den Fluten und tanzten ihren glücklichen Tanz, wie all die Jahre schon.
    »Sie bewegen sich wie Delphine«, flüsterte Livia, »aber es sind keine.«
    »Und weil sie nicht gestorben sind ...«
    Wenn sie hoch in die Lüfte sprangen und ihren Salto vollführten, dann konnte man ihre Fischschwänze erkennen.
    »... tun sie es noch immer«, beendete Livia den Satz.
    Dann

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