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Fabula

Fabula

Titel: Fabula Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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und das wiederholte er andauernd, während er mit dem Schürhaken auf den Jungen zuging. Nur dieses Wort, das schlimmer als nur eine Drohung und grausamer als ein Befehl war. Dieses eine Wort. Und es lag so viel Furcht und so viel Abscheu in diesem Wort, dass Colin sich ängstlich zu fragen begann, was Livia wohl zugestoßen sein könnte. »Verschwinde!« Der Schürhaken schlug nach ihm, und Colin blieb keine Wahl, als das Grundstück der Lassandris zu verlassen.
    Völlig betrunken war er nach Ravenscraig zurückgekehrt, wo Helen Darcy ihn vor dem Bildnis des Soldaten im Moor abgefangen und mit der ihr eigenen Perfidie in diese entsetzliche Geschichte hineingezogen hatte, die ihn beinah um Leben und Verstand gebracht hätte.
    Später, im Morgengrauen dann, hatte er in seinem Zimmer am Fenster gesessen und den Wipfeln der Bäume dabei zugesehen, wie sie sich im Wind wiegten. Dabei hatte sich ihm quälend die Frage aufgedrängt, die er sich als kleines Kind oft gestellt hatte, nämlich die, wie weh es wohl täte, einfach aus dem Fenster zu springen. Ravenscraig war ein großes Haus, und obwohl sich die Zimmer der beiden Jungs im ersten Stock befanden, würde er tief fallen. Wie oft schon hatte er diesen Gedanken gehabt? Und wie oft schon hatten ihn die Zweifel das Fenster wieder schließen lassen. Es war tief, ja. Aber wäre es tief genug? Und selbst wenn es ihm gelänge, nein, er könnte Danny hier nicht allein zurücklassen. Danny brauchte ihn.
    Colin sprang nicht.
    Er war noch nie gesprungen. In seinen Gedanken, ja, da hatte er es oft getan. Er hatte sich vorgestellt, wie er tot sein würde und seine Eltern voller Bedauern der Beerdigung beiwohnen würden. Ja, dann würde es ihnen leid tun, alles.
    Er schüttelte den Kopf.
    Nein, er konnte es nicht tun. Und vielleicht würde er Livia ja auch eines Tages wiedersehen. Etwas in ihm hielt an diesem Gedanken fest, denn es war ein Gedanke von der Sorte, die einen fliegen lassen, wenn man sie lange genug Colin fragte sich, ob seine Mutter etwas mit Livias Verschwinden zu tun hatte.
    Er wusste es nicht. Er würde es vermutlich niemals erfahren, obgleich sein Gefühl ihm sagte, dass sie etwas im Schilde geführt hatte. Aber Helen war geschickt, ließ sich derlei Dinge nicht schnell anmerken.
    »Sie hat so verdammt oft gelogen«, sagte Colin zu Livia, als sie nun zum Wagen spazierten. »Und es hat sich so verdammt ehrlich angehört.« Für ein Kind jedenfalls hatte es das getan.
    »Du erinnerst dich wieder daran.«
    »Ja, wahrhaftig.«
    Die Erinnerung war wie Treibgut an Land gespült worden. Er musste nur noch umherlaufen und es einsammeln, das war alles. Er musste seine Erinnerungen einsammeln und sich selbst fragen, ob er sie auch wirklich betrachten wollte.
    Das war alles, eigentlich war es ganz einfach.
    Und trotzdem blieben am Ende doch nur Fragen übrig, man konnte es drehen und wenden, wie man wollte. Aber es gab einen Unterschied zu seinem früheren Leben. Livia war da.
    »Komm zu mir nach Black Head«, hatte sie ihn gebeten, »Lass uns dein Zeug holen, und dann komm her.«
    Als sie endlich den Parkplatz mit dem Rover erreichten und losfuhren, um die wenigen Habseligkeiten, die er mitgebracht hatte, aus der Pension zu holen, da fragte sich Colin erneut, was die Zukunft ihm wohl noch bringen würde.
    »Du grübelst wieder zu viel.« Livia saß auf dem Beifahrersitz und band sich ein Kopftuch um. »Ich weiß, was du jetzt brauchst«, stellte sie fest. »Es ist ganz einfach.«
    Er lenkte den Wagen ein Stück an den Klippen entlang. »Was brauche ich denn?«
    »Du brauchst ein Orakel.«
    Er musste sie nicht anschauen, um zu wissen, dass sie nicht scherzte. »Ein Orakel?«
    »Ja, so ein Ding, das dir sagt, was Sache ist.« »Ich weiß, was ein Orakel ist«, erwiderte er. »Dann ist es ja gut.«
    Jetzt warf er ihr doch einen gespielt entnervten Blick zu. »Hast du eine Ahnung, wo ich eins finde?«
    Sie lachte. »Ja, hier.« Sie klopfte dreimal auf das Radio, das ein altes Radio war, eines von der Sorte, die nicht einmal ein Kassettendeck haben.
    »Das ist ein Radio«, sagte Colin. »Ich erkenne ein Radio, wenn ich eins sehe.«
    »Und ich erkenne ein Orakel, wenn ich eins sehe.«
    »Du willst doch nicht behaupten, dass dieses alte Autoradio meine Zukunft kennt?« »Doch, genau das behaupte ich. Denn genau das tut's.« Sie schaltete es ein. Es machte Klick.
    Der Rover verließ den holprigen Küstenweg und bog auf die A77 ein in Richtung Portpatrick. »Hast du schon mal

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