Fächerkalt
worden.
Grob – mittel – fein. Das Los bestimmte zwei Kriminaltechniker, die den unangenehmsten
Job zu erledigen hatten: Ausgestattet mit Wathosen, Wetterjacken, langen Gummihandschuhen
und Filtermasken mussten sie den Containerinhalt Schaufel für Schaufel auf dem obersten
Sieb verteilen, anschließend so lange mit einem weichen Wasserstrahl vorsichtig
abspülen, bis der Schlamm vollständig weggeschwemmt war und anschließend die Überbleibsel
aus den Sieben sammeln.
Sowohl Oskar
Lindt und seine Mitarbeiter als auch die Rechtsmedizinerin Dr. Adelheid Salzmann
hielten sich in respektvollem Abstand auf und nahmen die Fundstücke erst in Augenschein,
als sie von mehreren tausend Litern Wasser gereinigt worden waren.
Die meisten
Knochen blieben auf dem Grobsieb liegen. Oberschenkel, Beckenschaufeln, Wirbelsäulenteile,
Schulterblätter, Schädelfragmente.
Die kleineren
Teile sammelten sich auf den feineren Sieben. Ganz unten lagen Zähne, Finger, Zehen
und eine Menge undefinierbare kleine Knöchelchen. Alles in einem Braunton, der einer
dunklen Holzlasur sehr nahe kam.
»Puzzlearbeit«,
stöhnte die Ärztin. »Das kann dauern.«
Lindt interessierte
sich für etwas ganz anderes: »Wie viele?«
»Zählen
Sie doch einfach die Schädel, Herr Kommissar«, antwortete Adelheid Salzmann. »Drei
kann ich von hier aus schon erkennen.«
6
»Die Kälte«, sinnierte Oskar, als
er nach diesem sehr langen Arbeitstag endlich zu Hause in der Waldstadt eintraf.
»Die Kälte! Wir haben sie gleich gespürt, als wir zum ersten Mal in diesem Hof standen.
Niemand kann reinschauen, abgesehen von der schmalen Einfahrt. Niemand weiß, was
sich darin abspielt. Alles von kalten Steinen umgeben. Mauern, Gebäude, Hofpflaster.
Sie steckt mir jetzt noch drin, die Kälte. Schauerlich, eisig, unheimlich.«
Carla Lindt
kannte solche Situationen und wusste, dass ihr Mann jetzt dringend abgelenkt werden
musste: »Die Kartoffelsuppe ist etwas eingekocht, aber noch heiß. Die wird dich
von innen her aufwärmen.«
Der Kommissar
hatte im Lauf des Tages zweimal angerufen, um ihr zu sagen, dass es völlig unsicher
sei, wann er Feierabend machen könne. »Kein Problem«, hatte sie gesagt. »Ich koch’
etwas, das sich gut warm halten lässt.«
Solche Konstellationen
hatte es schon häufig gegeben, meistens am ersten Tag eines neuen Falls. Lindts
Prinzip war, immer vor Ort zu bleiben, so lange Untersuchungen durchgeführt wurden.
Meistens saß oder lehnte er irgendwo in der Nähe, beobachtete die Arbeit seiner
Truppe und sog dabei die Örtlichkeit quasi in sich auf.
»Wenn man
sich in eine Person hineinversetzen will, muss man das Umfeld immer miteinbeziehen.
Niemand lebt im luftleeren Raum, jeder steht mit seiner Umgebung in Beziehung«,
hatte Lindt vor wenigen Tagen an der Polizeihochschule in Villingen-Schwenningen
gesagt. Im Rahmen der alljährlich stattfindenden Vortragswoche unter dem Titel ›Von
den Besten lernen‹ war er nun schon zum zehnten Mal gebeten worden, über seine Erfahrungen
zu berichten.
Wortkarg
saß er jetzt bei Carla am Küchentisch und fühlte, wie die heiße Suppe langsam seinen
Magen füllte.
»Tut gut«,
sagte er leise.
»Habt ihr
euch nichts zu essen organisiert?«, wollte Carla wissen.
Lindt schüttelte
den Kopf. »Die Feuerwehrleute haben zwischendurch mal was geholt. Ich hab einfach
nichts runtergebracht. Es war heftig.«
An Tagen
wie diesem konnte er stundenlang durchhalten, ohne etwas zu essen oder nur einen
Schluck zu trinken. Er war dann völlig konzentriert und blendete alle körperlichen
Bedürfnisse aus.
Es gab jedoch
auch andere Tage. Wenn er zum Beispiel bei einem Problem nicht weiterkam und ziellos
durch die Stadt ging. Da konnte es vorkommen, dass er sich im Stundentakt in Bäckereien,
an heißen Theken oder Imbissbuden wiederfand. Butterbrezeln, Fleischkäsebrötchen,
Schokocroissants, Pizzastücke und Yufka-Döner wanderten in wilder Reihenfolge in
seinen Magen.
Nicht nur
seine Kollegen, die deswegen öfter mal stichelten, nein, auch Carla kannte die Übersprunghandlungen
ihres Oskar und betrachtete deshalb mit zunehmender Sorge seinen stetig größer werdenden
Umfang. Er selbst blendete dieses Thema allerdings vollständig aus.
Wenn seine
Frau darüber reden wollte und gar die Worte ›Arztbesuch‹ oder ›Kur‹ in den Mund
nahm, wurde der Kommissar sehr einsilbig. Nicht, dass er sich mit der voluminösen
Figur besonders wohlfühlte – nein, die Kurzatmigkeit beim Treppensteigen und
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