Fächerkalt
in Knielingen.
Ja, schon
wieder ging ihm dieser eisige Ort durch den Kopf. Er ließ ihn einfach nicht los.
Lindt kickte einen Kiefernzapfen fort, der vor ihm auf dem Gehweg lag. Wollte er
eigentlich wirklich wissen, was dort passiert war? Was änderte sich denn, wenn sie
herausfanden, wessen Knochen im Gülleschlick braun gegerbt worden waren? Klar, vielleicht
fanden sie des Rätsels Lösung. Vielleicht fanden sie sogar den, der die toten Körper
entsorgt hat. Wahrscheinlich war der jedoch selbst längst tot. Oder die? War der
Täter möglicherweise eine Frau? Doch was brachte es, wenn sie alles aufklären könnten?
Natürlich Gerechtigkeit – dafür wurden sie ja schließlich bezahlt. Aber mussten
sie sich das immer wieder antun, solch schlimme Vorkommnisse ans Tageslicht zu holen?
Sollten sie die Toten nicht lieber ruhen lassen? Er wusste es nicht.
Die Frau
hatte sicherlich nicht lange dort unten gelegen. War es wirklich Irene Stoll, die
Antiquitätenhändlerin? Wer hatte sie versenkt? Derselbe, der das Anwesen leergeräumt
hatte? In den paar Tagen, als Konstantin von Villing sich als Penner versucht hatte?
Die Anwohner
mussten auf jeden Fall etwas bemerkt haben. Die Möbel aus dem Wohnhaus, die Maschinen
und dann die Antiquitäten aus der Scheune? Dafür brauchte es bestimmt zwei, drei
Lastwagen – halt, die passten ja nicht durch die Einfahrt –, also auf jeden Fall
mehrere kleinere Transporter. Oder war das alles in dunkler Nacht passiert?
Wie lange
hatte von Villing auf der Straße gelebt? 14 Tage ungefähr. Ja, das könnte gereicht
haben. War es tatsächlich Zufall, dass er just nach dieser Zeit ins Präsidium gekommen
war?
War seine
Reaktion beim Anblick des leeren Anwesens echt? Falls nicht, war er ein sehr guter
Schauspieler.
Lindt schaute
auf die Uhr. Schon Viertel vor Fünf. Unglaublich, wie schnell beim Sinnieren die
Zeit verging. Der Kinderspielplatz in der Verlängerung der Insterburger Straße kam
ihm gerade recht. Er setzte sich auf eine der Bänke, von denen aus tagsüber die
Mütter und Väter ihre Kleinen im Sandkasten oder beim Schaukeln beobachteten. Die
Bank lag vollständig im Dunkeln, keine Straßenlampe in der Nähe. Lindt schlug den
Kragen seiner dicken schwarzen Cordjacke hoch. Langsam wurde er müde und ein leichtes
Frösteln kroch seine Beine hoch.
Kalt – eiskalt
– erbarmungslos kalt. Wie lange muss ich mir das noch antun?
»Was machen
Sie denn da?« Eine schneidende Stimme riss ihn aus dem Schlummer. Entsetzt fuhr
Lindt zusammen und riss die Augen auf. Grelles Licht blendete ihn. Schützend hielt
er sich die Hand vor.
»Ach, du
bist’s, Oskar.« Zwei Kollegen vom Polizeirevier Waldstadt sahen ihn zweifelnd an.
»Eine Zeitungsfrau hat uns angehalten. Da mussten wir doch mal nachschauen, was
für ein Kerl sich früh morgens auf dem Spielplatz …«
»Ich konnte
halt nicht schlafen.«
Die beiden
grinsten. »Das hat grad ganz anders ausgesehen. Komm, steig ein, auf der Wache haben
wir immer einen Kaffee.«
»Mit viel
Milch, bitte«, seufzte Oskar Lindt und rappelte sich hoch.
Natürlich hatte sich die Aktion
in Knielingen schon bei den anderen Karlsruher Revieren rumgesprochen.
»Da könnt’
ich auch net schlafen«, meinte der ältere der Streifenbeamten, als sie sich in der
Wache mit Kaffee versorgt hatten. »Sag mal, Oskar, wo war denn das genau?«
Lindt beschrieb
ihm das Anwesen.
»Alles aus
Sandstein gebaut? Hab mir’s fast gedacht. Ich mein’, da gab’s vor 20 oder noch mehr
Jahren schon mal was. Da haben sich zwei … hinten in der Scheune …« Er fuhr sich
mit dem Zeigefinger über den Hals. »Du weißt schon, Hochzeit mit des Seilers Tochter
…«
Lindt zuckte
zusammen. »Was? Echt?« Schlagartig kam ihm die alte Nachbarin in den Sinn. »›Da
hat man schon mal zwei raus’tragen. In der Kist’‹ Das hat die alte Frau von gegenüber
dem Paul gestern gesagt. Da läg’ kein Segen drauf.«
Der Kollege
überlegte: »Damals war ich noch in der Weststadt. Also irgendwann in den 70ern.«
»Meine Zeit
unten am See«, antwortete Lindt. »Konstanz. Deshalb weiß ich nichts davon.«
»Zwei Frauen,
Mutter und Tochter, die hatten sich gemeinsam auf einen Stuhl gestellt, umklammert,
und dann …«
»Ich hab’s
gespürt. Dort wohnt der Tod. Und zwar nicht erst seit gestern.« Lindt nahm einen
großen Schluck Milchkaffee. »Nachher lass ich mir die Unterlagen kommen.«
7
»Wissen wir denn schon, wem dieses
Anwesen gehört?«, war die erste Frage des
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