Fächertraum
zu fahren.
Gemächlich trat er los, überquerte nach einer Weile die Brauerstraße, kam am ZKM und an den Vincentius-Krankenhäusern vorbei. Auf der schmalen Brücke über die Alb stieg er ab. Brücken zogen ihn an. Oft schon hatte er an solchen Stellen kurz innegehalten und nach unten geblickt. Auf Straßen, Bahnlinien, Spazierwege oder, so wie hier, auf das dunkle, kraftvoll strömende Wasser.
Unter den Brücken war Leben, Bewegung, Aktivität. Für ihn da oben stand die Zeit kurz still. Was, wenn man den Strom dort unten anhalten könnte? Nur ein paar Sekunden? Oder gar rückwärtsbewegen, so wie in einem Film, der verkehrt herum abläuft?
Das Wasser würde den Berg hinauffließen. Verrückter Gedanke, Utopie. Die Zeit ließ sich eben nicht zurückdrehen.
Lindt stieg auf. Ein letzter Blick auf das Flüsschen. Heute weder Papierschiffchen noch Eisvogel.
Die Schrebergärten zwischen der vierspurigen B 10 und der Alb erreichte er im Nu. Allerdings war er schon Jahre nicht mehr hier gewesen, deshalb tat er sich etwas schwer, den richtigen Kleingarten zu finden.
Die meisten Grundstücke machten einen gepflegten Eindruck, doch manche Lauben waren auch windschiefe Bretterbuden, zusammengenagelt aus dem, was sich am Straßenrand so alles fand. Brombeerranken zogen dort die Maschendrahtzäune nach unten, und Fußwege waren nur als schlammige Trampelpfade zu erkennen.
»Oskar, schau net so kritisch«, ertönte eine wohlbekannte Stimme hinter einer hochgewachsenen dichten dunkelgrünen Thuja. Alwin Stadler hatte schon längst beobachtet, wer da gemächlich sein Fahrrad schiebend die Gärten inspizierte.
»Was macht denn so ein Friedhofsbaum hier?«, wies der Kommissar mit dem Kinn auf den Lebensbaum.
»Äpfel trägt er keine, aber wenn der Sperber um die Ecke pfeift, dann hocken plötzlich alle Spatzen drin.«
»Hättest wohl nicht gedacht, dass ich dich so schnell besuchen komm?«, streckte Lindt seinem betagten Kollegen die Hand hin.
»Ich freu mich riesig.«
»Den kräftigen Händedruck hast du immer noch«, stellte der Kommissar fest und ging durch die hölzerne, kunstvoll aus krummen Akazienästen zusammengefügte Gartentür.
Ein Plattenweg führte zwischen Rosensträuchern und umgegrabenen Gemüsebeeten zu einer niedrigen Hütte, die nahezu komplett mit Efeu zugewuchert war. Seitlich ragte ein gebogenes Ofenrohr aus der Wand.
»Du hast den Ostwind mitgebracht, Oskar, es wird kälter«, sagte Stadler mit Blick auf die feine Rauchfahne, die nach Westen fortflatterte. »Aber dem Rosenkohl tut ein wenig Frost nicht weh.«
Lindt schaute sich interessiert um. Auch Lauch und Grünkohl, Feldsalat und Wirsing standen erntebereit als Wintergemüse in den Beeten.
Unter einem seitlichen Schleppdach zog Alwin trockene Holzscheite hervor, dann schob er mit dem Fuß die Tür auf. »Rein ins Warme. Du kommst ja sicher nicht ohne Grund.«
Der schmale Blechofen reichte völlig aus, um die Laube gemütlich zu erwärmen. »Wenns richtig kalt ist, schluckt er schon einiges. Aber vielleicht sollte ich dort oben mal abdichten.« Er betrachtete den First, wo durch einige deutlich sichtbare Ritzen die Helligkeit von draußen hereinschien.
»Deine Wohnung hast du aber noch?«, fragte Lindt vorsichtig.
»Jaaa«, kam lang gezogen die Antwort. »Eigentlich schon, aber seit mein Enkel mit seiner Freundin dort eingezogen ist, bin ich meistens hier auf meinem ›Gütle‹.«
»Auch über Nacht?«
»Hab ichs net gemütlich eingerichtet?«
Lindt ließ seine Augen durch den Raum wandern. Ein breites Sofa an der Wand, ein roher rustikaler Holztisch mit drei Stühlen – ›selbst gebaut‹ –, Spüle, Küchenbuffet, Gaskocher. »Mehr brauchts eigentlich nicht.«
»Weißt du, wie viel Zeit man mit Fernsehen vertrödelt? Mir langt die Musik, die dort rauskommt.« Alwin schaltete ein Kofferradio ein.
»Für mich bitte SWR 4«, lachte der Kommissar und drückte probeweise auf die Polsterung des antiquierten Sofas, bevor er sich daraufsetzte.
»Ich mach uns Tee.«
»Ooh, muss nicht sein«, versuchte Lindt seine Abneigung gegen aufgebrühte Kräuter zu umschreiben. »Ich hab grad …«
»Immer noch Milchkaffee, stimmts? Den kann ich leider net bieten, aber wie wärs mit meinem eigenen Apfelmost, ein richtig saurer, der zieht dirs Hemd rein. Oder ists dafür zu kalt?«
Ohne Lindts Antwort abzuwarten, ging Stadler durch eine niedrige Tür in den Vorratsraum und kam mit einem vollen Krug zurück. »Du bist ja mit dem Fahrrad
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