Fänger, gefangen: Roman
Natürlich lässt Holden das in seiner Erzählung aus, weil er es gewohnt ist. Außerdem ist er vollauf damit beschäftigt, sich zu überlegen, welche Leute er kennt, um sie dann anzurufen. Und mit Meredith oder Joe oder Mack wäre es hier auch spannender. Wo ich jetzt darüber nachdenke, fällt mir ein, dass Joe mal mit ein paar Kumpel aus dem College hier war. Ein Besuch bei irgend so einem Fernsehsender für sein Hauptfach Politik? Recherchearbeit im Museum? Ich kann mich nicht an viel erinnern, außer dass er das Essen teuer fand und angeblich eine Menge megaschöner Models in Nerzmänteln über die Fifth Avenue spazieren sah. Essen und Mädchen sind in Joes Leben ziemlich wichtig. Um ehrlich zu sein, haben mich seine Geschichten nicht so sehr beeindruckt wie die von Holden. Nicht, dass ich ihm das je sagen würde.
Ich wünschte, ich könnte mit Meredith über diese Reise reden. Ich wollte – konnte – ihr vorher nichts von New York erzählen. Wir haben über andere Dinge geredet, wichtigere Dinge. Und am Ende – als ich wusste, dass ich fahren würde – haben wir gar nicht mehr viel geredet. Sie wäre bestimmt eine gute Reisegefährtin, neugierig, aber geduldig.Sie achtet auf die kleinen Dinge. Ihr fallen zigtausend Sachen auf, die mir entgehen: Wandgemälde in Eingangshallen, Männer auf Stahlträgern zwanzig Stockwerke über uns, Siamkatzen im Müllcontainer. Ich versuche, alles mit den Augen aufzusaugen, damit ich es ihr schreiben kann. Und das kann ich, sobald ich die richtigen Ärzte gefunden habe und sie mit der Chemo beginnen. Dann werd ich jede Menge Zeit haben. Die Leute reden von Chemo immer in Runden. Es wird also lange dauern.
Es ist blöd, dass so viele Fremde um mich herum sind und ich mich ganz einsam fühle. Wenn ich nur eine Ahnung hätte, wo diese ganzen Orte sind, von denen Holden im
Fänger
erzählt. Er hätte einen Lageplan zeichnen sollen, wie bei Winnie der Pu, mit dem
Edmont Hotel
, dem Central Park South und
Ernie’s
. Allerdings ist er auch nicht unbedingt der Typ, der dir genau sagt, wie du wohin gehen sollst.
Selbst nach dem langen Nickerchen im Zug hab ich keine Kraft zu laufen. Nachdem ich ein paar Leute beobachtet habe, wie sie aus dem Bahnhof kommen und sofort nach rechts in die Taxischlange schwenken, ihre Koffer hinter sich wie Entenkinder, stelle ich mich ebenfalls in die Schlange. Manche sitzen auf ihren Gepäckstücken, aber Dads Rollkoffer ist zu klein. Ich hätte den Campingklappstuhl mitnehmen sollen. Dann würden sie mich bestimmt gleich als Provinztrottel identifizieren.
Als ich an der Reihe bin, steigt der Taxifahrer nicht aus, um mit dem Koffer zu helfen. Ich warte einen Augenblick, bis ich merke, dass er sich definitiv nicht bewegen wird. Aus dem Radio kommt Haremsmusik. Das könnte interessant werden. Während ich mich abmühe, meinen Koffer in den Kofferraum zu hieven, kommt eine Frau von hinten zu mir nach vorn, greift ihn und wirft ihn rein.
»Danke«, sage ich.
»Pack ihn das nächste Mal leichter«, erwidert sie. »Du hältst die Schlange auf.«
Willkommen in New York.
Das
Edmond Hotel
gibt’s nicht mehr. Zumindest hat der Taxifahrer nie davon gehört.
»Wie steht’s mit dem
Horn and Hardart?«
Er fuchtelt mit der Hand durch die Luft. »Ist das irgendein Tanzschuppen?«
»Nein, mehr so ein Café.«
»Du willst essen? Touristen gehen zu
Benihana.«
Er zieht über drei Fahrspuren und biegt in ganz anderer Richtung in eine schmale Seitenstraße ein.
»Nein, nein, ich bin nicht hungrig«, antworte ich. »Wie wäre es mit dem
Algonquin Hotel?«
»Yeah, yeah.« Er macht eine noch wildere 180-Grad-Wendung, brüllt und gestikuliert in Richtung der hupenden Fahrer um uns herum. Dann reiht sich das Taxi in den Verkehr ein, nur um sofort wieder abzubremsen und einer schwarzen Limousine auszuweichen, die dann mit quietschenden Reifen wenige Zentimeter von meiner Tür entfernt stehen bleibt. Die Frau darin öffnet den Mund zu einem stummen Schrei. Als ich lache, dreht mein Fahrer sich um und starrt mich an. Es hätte keinen Sinn ihm zu erklären, dass ein tödlicher Autounfall für jeden in meiner Situation nicht gerade der Worst Case wäre.
In
Algonquin
verlangen sie für eine Nacht mehr Geld, als ich je besessen habe. Holden hat vergessen zu erwähnen, dass sein Vater stinkreich war. Ich könnt mich selbst in den Arsch beißen, dass ich nicht vorher draufgekommen bin. Privatschulen und Tweedjacken, die andere Typen sich ausleihen wollen, und ein Haus
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