Fänger, gefangen: Roman
gerade. »Du hast
Der Fänger im Roggen
gelesen, du Hund. Warum hast du nichts gesagt?«
Er macht mich verlegen, auch wenn ich weiß, dass er das nicht will. Meine Augen werden feucht. Verdammt. Ich dachte, nach dem Testament wäre es mit der Heulerei vorbei.
Nicht,
sage ich mir selbst.
Nicht hier, nicht vor Mack
. Er hat den
Fänger
gelesen, weil ich es ihm gesagt hab. Weil sein bester Freund stirbt und es das Einzige ist, was er noch für ihn tun kann.
Er zuckt die Schultern. »Gern gescheh’n.«
»Hast du wirklich mit dem Gras aufgehört?«
Ich kann mich nicht überwinden,
Koks
zu sagen. Auch jetzt noch will ich glauben, dass es nur ein paar Mal geschehen ist. Aber als er nicht antwortet, sehen wir beide zur Seite.
»Du bist ein Vollidiot«, sage ich.
»Und du ein verdammter Klugscheißer.«
»Ich darf das.«
»Nur weil du krank bist?«, regt er sich wieder auf. »Musst du da jedem sagen, wie er sein Leben leben soll?«
»Weil ich sterbe«, sage ich. »Du weißt, dass ich recht hab. Es ist eine schlechte Angewohnheit. Gefährlich. Drogen machen dich kleiner, nicht größer. Wenn du erwischt wirst, geht alles, was du je tun wolltest, den Bach runter. Sieh doch mal, was heute passiert ist. Warum willst du’s dir versauen?«
»Du bist doch derjenige, der immer freien Willen predigt.«
»Ja, aber für gute Entscheidungen, nicht für lausige.«
»Und nach New York zu verschwinden«, sagt Mack »und deine Familie hängen zu lassen – ist das eine gute Entscheidung?«
»Mir bleiben nicht viele Möglichkeiten.«
»Du drückst dich wie’n Schisser«, sagt Mack. »Du hast Angst, und du willst nicht, dass jemand anderes das mitkriegt, also rennst du weg.«
»Ach, verpiss dich.« Ich gehe den Bahnsteig runter. Minuten später, als ich den Zug höre, mache ich kehrt, um meinen Koffer zu holen, und da steht er allein auf dem Bahnsteig. Mack ist weg.
21
Als ich in New York den unterirdisch verlaufenden Bahnsteig betrete, zittern mir die Beine, und mein Kopf ist tonnenschwer. Ich hab vergessen, Tylenol mitzunehmen. Hier wird es mehr kosten, mein erster Fehler. Und ich muss was essen. Im Zug war alles unverschämt teuer. Ich hab schon alle Biokekse von Meredith verputzt. Eigentlich hatte ich jeden Tag einen essen wollen, aber jetzt sind sie weg. Die meiste Zeit der Fahrt hab ich geschlafen, obwohl ich all die Orte sehen wollte, über die ich in Büchern gelesen habe. Union Station in Washington, D. C., Philadelphia, New Jersey. Ich weiß, ich weiß, niemand hat New Jersey auf der Liste der Orte, die er unbedingt sehen will, aber es liegt nördlich der Mason-Dixon-Linie. Da sprechen sie mit diesem wilden Nordstaatenakzent, für den sie mir kein bisschen leidtun nach dem ganzen Getue, das sie immer um die Südstaatenakzente machen. Vom langen Schlafen bin ich ganz benommen und wacklig auf den Beinen. Als ich auf der obersten Stufe zögere, greift der Schaffner nach meinem Koffer. Ich bin schockiert darüber, dass ich derart schlecht aussehe.
Penn Station ist ein einziges Gewusel. Menschen in Saris, mit Turbanen, mit Cowboyhüten, in Motorradjacken, Ballettschuhen, viele Businessanzüge. Chinesen, Inder, Afroamerikaner, Spanier. Klein und dick, lang und dünn. Eine Stadt dieser Größe ist ein gutes Versteck für einen Jugendlichen, kein Wunder, dass Holden hierherkam. Als ich zum zweiten Mal die lila Ballons mit der Aufschrift I LOVE NEW YORK sehe, merke ich, dass ich einmal im Kreis gelaufen bin. Und ich hab keinen blassen Schimmer, wie ich hier rauskomme. Gänge strecken sich wie Tentakelbeine in alle Richtungen. Wie zum Teufelsoll ich wissen, ob ich zum Madison Square Garden will oder zur Thirty-Second Street?
Über mir geht ein Fahrstuhl nach oben, und ich treffe eine schnelle Entscheidung. Abgestandene feuchte Luft wird zu einem Windkanal. Stinkend, kalt, ein Schwall der wirklichen Welt. Ich bin in New York, der großen Stadt, Holdens Revier. Ich bin wirklich und tatsächlich hier. »Hättest du je gedacht ...«, höre ich das Echo von Macks Stimme.
Oben sehe ich durch die Glaskabine einen Fleck blauen Himmel und Streifen von Gelb. Taxis. Nick würde die Hektik gefallen. Er würde die Bürgersteige entlang- und einfach so über die Straßen laufen wie ein Einheimischer. Ich bin da mehr wie Holden. Mir gefällt die Vorstellung, mich zurückzulehnen und von jemand anderem durch den Wahnsinn fahren zu lassen.
Es ist nicht unbedingt das, was ich erwartet hatte. Mehr Menschen auf den Straßen, mehr Autos.
Weitere Kostenlose Bücher