Fänger, gefangen: Roman
nicht kennt und der das alles wahrscheinlich ganz egal ist.
»Du meine Güte!«, reagiert sie empört. »Was haben die sich nur dabei gedacht?«
»Es klang damals wirklich logisch«, verteidige ich Mom. »Ich war ihrer Meinung.«
»Ja, natürlich, du bist ein Teenager«, erwidert sie. »Von einem Teenager kann man solche Dummheit erwarten, aber Erwachsene sollten es besser wissen.«
Als sie sich umdreht, um etwas in das Gerät an der Seite einzutippen, schwinge ich die Beine von der Trage. Der Koffer müsste hier irgendwo sein. Meine Jacke. Mein Rucksack. Die Unterlagen von Senator Yowell, das neue Gesetz, das mir das Recht gibt, Entscheidungen zu meiner Behandlung selbst zu treffen.
Als ich das nächste Mal aufwache, liege ich immer noch im selben kleinen Krankenabteil, jetzt aber zugedeckt. Dieselbe Schwester hält ein Telefon an ihr wuscheliges orangefarbenes Haar. Mit demselben durchdringenden Blick starrt sie beim Tippen auf die Tastatur, klopft dann mit ihrem Stift auf die Tischplatte, während sie darauf wartet, dass jemand am anderen Ende abhebt, und nickt danach wie ein Groupie im Rockkonzert. Das Gespräch dauert und dauert, ist aber nicht laut genug, dass ich was verstehe. Ich döse fast weg und höre nur »Notfall« und »so schnell wie möglich«. Als sie sich umdreht, versuche ich zu lächeln. Ich brauche sie, und sie weiß es.
»Du hast gelogen«, sagt sie.
»Das ist egal«, sage ich. »Meine Eltern verstehen das nicht. Niemand versteht das. Und sowieso ist es mein Leben.«
»Das sagen sie alle«, erwidert sie. »Tja, wo du schon mal hier bist, bekommst du die Chance, dir mehr Mühe zu geben, mir zu erklären, was los ist. Rühr dich nicht vom Fleck.«
Sie bringt mir ein Tablett aus der Cafeteria. Hamburger, Pommes, Orangensaft.
»Daniel Solstice Landon, ist das dein richtiger Name?«
»Ja. Schwedisch.«
»Ich bin Jolie, aber keine Französin.«
»Hören Sie, es tut mir leid, dass ich Ihnen so viele Umstände mache«, sage ich. »Das Nasenbluten ... Ich weiß nie, wann es kommt. Darf ich mit einem Arzt sprechen?«
»Vielleicht«, sagt sie. »Wenn du isst. Du brauchst Kraft. Du hast viel Blut verloren.«
»Vom Nasenbluten?«
»Ich würde sagen, jemand hat dir was Schweres über den Kopf gezogen.«
Ich fühle mit den Fingern nach und merke, dass mein Hinterkopf rasiert wurde. Zwischen meinen Ohren ist eine dicke Wundauflage mit Leukoplast und einer Bandage. Dann waren die Männer in der Gasse also doch nüchtern genug gewesen. Kein Wunder, dass mein Kopf hämmert.
»Ich bin nicht besonders hungrig.«
»Da muss dir schon was Besseres einfallen«, sagt sie. »Trink wenigstens den Orangensaft. Blutzuckerspiegel, du weißt schon. Sie müssen dir noch mal Blut abnehmen, mehr diesmal, und du bist mir schon mal weggesackt. Und wer weiß, wie oft vorher schon – bevor du hierherkamst.«
»Wie bin ich hierhergekommen?«
»Hör zu, wir schreiben keine Biografien«, sagt sie. »Das ist die Notaufnahme. Hier kommt niemand rein, dessen Geschichte fein säuberlichaufgeschrieben ist.« Sie hält mir den Becher an die Lippen und schüttelt den Kopf. »Wenn du mein Kind wärst, würde ich dich umbringen, weil du weggelaufen bist, ohne was zu sagen. Ich nehme an, deine Eltern hatten keine Ahnung, dass du hierher wolltest?«
»Nein, keine Ahnung.« Ich beiße mir auf die Lippen, um den Saft nicht wieder auszukotzen.
»Du wirst ganz grün. Brauchst du die Schale?«
»Danke.«
Während ich orangefarbenen Sabber in die nierenförmige Plastikschale spucke, die für ganz andere Flüssigkeiten gedacht ist, streicht die Schwester mir das Haar aus der Stirn und klemmt es hinter meine Ohren.
»Schon mal überlegt, zum Friseur zu gehen?«
»Sie und mein Dad.«
»Der erste Eindruck ist wichtig«, sagt sie. »Die können nicht einfach jedem Hinz und Kunz, der in der Notaufnahme auftaucht, Medizin verabreichen. Und schon gar keine Chemotherapie. Dazu braucht man eine Menge Tests und Formulare und Meinungen von Ärzten, ganz zu schweigen von elterlicher Zustimmung. Und Geld oder eine Versicherung. Dachtest du, es wäre so, wie Aspirin zu nehmen?«
»Wenn Sie den Rucksack aufmachen«, schlage ich vor, »sind da die ganzen Unterlagen drin.«
»Hör zu«, sagt sie. »Du bist nicht Barbie. Also, erzähl hier keine Lügen. Du bist ohne Rucksack geliefert worden.«
»Ich hatte aber einen, und einen Koffer. Ist der hier?«
Sie schüttelt ihr orangefarbenes Haar. »Tut mir leid.«
»Das Gesetz sagt, ich darf
Weitere Kostenlose Bücher