Fänger, gefangen: Roman
Zehn-Dollar-Schein. »Vergiss das Wechselgeld nicht, aber gib dem Friseur bitte einen Dollar Trinkgeld. Bei diesen Preisen liegen die bestimmt unter dem Existenzminimum.« So ist sie, immer in Sorge um andere, während sie ihre eigenen Kleider im Secondhandladen kauft und ihre Lieblingszeitschriften in der Bücherei liest.
Sie blättert durch irgendwelche Papiere auf dem Beifahrersitz und denkt wahrscheinlich schon an alles, was auf ihrer Liste steht, weil sie den Motor laufen lässt. Was bei der Umweltverschmutzung und globalen Erwärmung absolut unmöglich ist. »Hör zu, Danny.«
Mom ist die Einzige, die mich ungestraft Danny nennen darf. Ich steige aus und beuge mich zu ihrem Fenster runter.
»Ich bin etwa eine Stunde unterwegs. Als Letztes gehe ich in die Bücherei. Wenn du früher fertig bist, kannst du im Wagen warten. Oder du gehst rein und suchst mich ... nein, das ist keine gute Idee. Warte einfach im Wagen.«
Von wegen. In letzter Zeit hab ich kaum mal freie Zeit in der Stadt. Die Liste der Orte, wo ich hingehen will, um zu sehen, was läuft, und um selbst gesehen zu werden, wird täglich länger. Wenn man auf einem Hausboot lebt, sind Sommerferien auch ohne die KRANKHEIT sterbenslangweilig.
Mack hat da mehr Glück. Sein Haus liegt zwei Straßenecken vom Friseur entfernt und auch zwei Straßenecken von allen Orten, an denen die Jugendlichen von Essex County in unserem Alter abhängen. Der Waschsalon, Parrs Parkplatz, der Schulhof der Grundschule, der Angelsteg, die Bücherei. Letzte Woche ist neben Mack eine Familie mit Zwillingsmädchen eingezogen, was Thema mehrerer spätnächtlicher Telefongespräche zwischen uns war. Obwohl ich die Zwillinge noch nicht gesehen hab, haben Mack und ich schon einen Plan zurechtgelegt, wie wir meine Mutter überreden, dass wir sie zum Bandkonzert mitnehmen. Das wöchentliche Konzert am Community College in Warsaw gehört zu den Lieblingsveranstaltungen meiner Eltern. Was organisierteEreignisse angeht, sind Musikveranstaltungen für sie eine Ausnahme. Wie Mom sagen würde, sind sie das,
was in dieser gottverlassenen Ödnis zwischen Rappahannock und Potomac River einem kulturellen Ereignis am nächsten kommt.
Nach dem Friseur sollte ich genug Zeit haben, um über den Motelparkplatz zu Mack rüberzugehen. Ausreichend Zeit, um die Zwillinge unter die Lupe zu nehmen. Er hat schon verraten, dass sie was fürs Auge sind. Das könnte meine letzte Chance sein, sie vor September von Nahem zu Gesicht zu kriegen. Bevor der Rest der Highschool sich um sie schart und Mack und ich nicht mal dicht genug rankommen, um mit ihnen zu reden.
Als ich in den Friseursalon gehe, klingelt die Glocke über der Tür. Ich bin jedes Mal aufs Neue überrascht. Und jedes Mal erschrecke ich mich. Alle Stühle sind besetzt. Die üblichen alten Säcke, alle mit nur noch drei Haaren zum Schneiden. Was gut ist, weil ihre Herzen mehr Aufregung wahrscheinlich nicht vertragen würden. Eine Mutter mit einem Baby auf dem Schoß und zwei kleinen Jungs, die sich um den Stuhl mit dem zerrissenen Vinylpolster streiten. Ich hab schon gesehn, wie Kinder halb angefressene Bonbons in diesen Riss schieben. Den Stuhl können sie gerne haben.
»Vierzig Minuten«, sagt mir der Friseur mit dem Toupet. Die beiden Jungs hören auf und starren mich an. Sie haben Angst, dass ich ihren Stuhl will. Ha. Der andere Friseur schneidet unbeirrt weiter, ganz ernst, ganz entschlossen, es richtig zu machen. Er muss mit meinem Vater verwandt sein.
»Können Sie mir meinen Platz reservieren?«, frage ich den Älteren, der hier das Sagen hat. Mom würde nicht wollen, dass ich mich Kleinkinderkeimen aussetze. »Ich bin gleich zurück.«
»Schreib deinen Namen auf.« Er deutet auf einen Schreibblock neben dem Telefon.
Freiheit.
Mrs Petriano öffnet die Tür. »Daniel, schön, dich zu sehen!«
Mack hat erzählt, als seine Mutter zum ersten Mal von der KRANKHEIT hörte, hat sie die ganze Nacht geheult. Wenn die Mutter eines anderen so empfindet, jemand, der mich auch kannte, bevor ich krank wurde, dann kann ich ja nicht so schrecklich sein.
Sie macht die Tür weiter auf. »Mack ist nebenan.«
»Bei den Zwillingen?«
Sie nickt. »Möchtest du reinkommen und ein Eis essen, während du wartest?«
»Ich könnte drüben anklopfen. Meinen Sie, das ist okay?«
»Oh ... natürlich. Natürlich.« Sie sieht mich mit großen Augen an, als wär ihr noch nie in den Sinn gekommen, dass zwei Mädchen in meinem Alter mich mehr interessieren
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