Fänger, gefangen: Roman
Zehen ragen in die Sonne. Es ist fast, als wäre ich unsichtbar, während die beiden in ihrer Wut baden. Das ist echt mal eine Atempause, weil Mom mich den ganzen Sommer kaum zehn Minuten allein lassen konnte. Während ich hier stehe und Kunden rein- und rausgehen sehe, wird Moms Hals hinten ganz rosa. Sie wollte nur Besorgungen machen, deshalb hat sie sich nicht wie sonst mit Sonnenschutzfaktor 50 eingeschmiert. Diesen Sommer ist sie plötzlich ganz verrückt nach Sonnenschutz, um den sie sich vorher kaum gekümmert hat. Obwohl sie das nicht weiter erklärt, ist es offensichtlich, dass es mit der drohenden Gefahr zusammenhängt, die die KRANKHEIT in unser Leben gebracht hat.
Ich bin nicht der Einzige, der leidet. Ich finde es furchtbar, dass sie und Dad auf Zehenspitzen durch die Tage gehen, um dem auszuweichen, was mich erwischt hat. Sie haben Angst, vor mir darüber zu sprechen. Sie versuchen alles in ihrer Macht Stehende zu tun, damit das Leben läuft wie immer. Aber das ist genau der falsche Ansatz, denn
wie immer
ist ja genau das, was uns hierher gebracht hat. Weil unsere Eltern sich so viel Sorgen um mich machen, leidet Nick am meisten unter jeder Entscheidung. Als Joe damals am Wochenende nach Hause kam, überfielen sie ihn damit, sobald ich aus dem Zimmer war. Das restliche Wochenende hörte er nur Musik und redete kaum mit mir. Keine ätzenden Sprüche, keine witzigen Geschichten – er stand definitiv unter Schock. Immerhin hat er nicht die Garagenfenster zerschlagen, so wie Holden, als sein Bruder Allie starb, aber das kann ja immer noch kommen. Wenn alles so läuft wie erwartet.
An jenem Sonntag ist Joe ganz früh wieder abgereist, ohne sich großartig zu verabschieden. Keiner von ihnen kapiert, dass es die Angst ist, weshalb es mir so dreckig geht, und nicht der Krebs.
Nachdem ich Mom und Effie zehn Minuten zugehört habe, wie sie hin und her diskutieren über die Ungerechtigkeit willkürlicher Beschäftigungsmodelle, Virginias konservative Politik und den traditionellenHass auf Gewerkschaften und Minderheiten, läuft mir der Schweiß in Bächen den Rücken runter.
»Mom.«
»Eine Minute noch, Daniel.«
»Mom, gib mir die Liste. Wir können uns an der Kasse treffen.«
Sie sieht mich an und lächelt – ein echtes Lächeln, zum ersten Mal seit dem Frühstück. Jemand braucht sie, und sie kann helfen, ohne an eine Beerdigung denken zu müssen. Was für eine Erleichterung!
»Danke.« Und sie lässt mich gehen ohne das sonst übliche »Bist du sicher, dass es dir gut geht?«.
Auf der Liste stehen sechs Sachen mit Vitamin C – irgendwo hat Mom gelesen, dass es gut gegen Übelkeit ist, und seither spricht sie von nichts anderem. Die Natur heilt sich selbst – das ist in unserer Familie Dauerthema. Aber mal ehrlich: Warum hört die Natur nicht einfach auf, solche Krankheiten zu produzieren? Dann müsste sie nicht so viel Energie darauf verschwenden, Heilmethoden zu finden.
Da ich schon Übung im Einkaufen habe, wähle ich die billigste Sorte Orangensaft, die Eigenmarke des Ladens, die man dann mit Wasser mischt. Aber ich prüfe auf der Rückseite noch die Liste mit den Vitaminen. Daniel Vitamin Landon – vielleicht krieg ich damit einen neuen Spitznamen. HC würde sich beölen.
Das Süßigkeitenregal weckt mein Interesse. Mädchen mögen Süßigkeiten. Leider hab ich keine Ahnung, was man für Mädchen aus Charlottesville aussucht oder überhaupt für Mädchen, da wir zu Hause NIE Süßigkeiten haben. Ich zögere bei den Schokoküssen – zu offensichtlich, zu blöd. Gerade als ich überlege, ob ich überhaupt etwas zu der Verabredung mit den Zwillingen mitbringen soll und was außer Süßigkeiten noch gehen würde, katapultiert sich mein Magen erst nach oben und saust dann in einen Abgrund. Ich stehe vornübergebeugt und suche einen Platz zum Hinsetzen, als Mom um die Ecke kommt.
Sie schiebt sich an einem Kunden vorbei und packt mich am Arm. »Effie!«, schreit sie.
Mir platzt fast das Trommelfell. »Ist schon gut, Mom. Das geht gleich vorbei.«
Am anderen Ende des Regals bleiben die Leute stehen und starren mich an. Was meine Mutter nicht weiter stört. Sie schiebt Müslipackungen von einem Stapel Pappkartons und zieht mich dahin. Effie und der Verkäufer sausen ebenfalls zum Ende des Regals. Chipstüten fliegen durch die Gegend.
»Sollen wir einen Krankenwagen rufen, Miz Landon?«
»Nein«, krächze ich. »Bitte nicht, Mom, das geht vorbei.«
»Nein, nein, es geht ihm gut.« Das sollte
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