Fänger, gefangen: Roman
trifft es nicht genau. Wir sind deine gesetzlichen Vertreter. So, wie Mr Walker das erklärt, erwartet der Staat von uns, dass wir die Verantwortung übernehmen. Und wenn wir nicht die richtigen Entscheidungen treffen, kann der Staat das für uns tun.«
»Es geht nicht um
richtige
Entscheidungen«, wirft Mom ein. »Sondern um Entscheidungen, die sie für richtig halten. Denen ist egal, was wir denken, auch wenn wir diejenigen sind, die mit all den Experten gesprochen haben.« Seit das Jugendamt seine Nase in unsere Angelegenheit gesteckt hat, sagt sie das andauernd. Was sie als so beleidigend empfindet, ist deren Annahme, sie habe keine Ahnung, nur weil sie sich nicht für die übliche Chemotherapie entscheidet. Sie sinkt neben Dad auf den Stuhl und lehnt sich vor wie eine Katze, die Trost beim größten Katzenhasser im Raum sucht. Ohne sie zu berühren, faltet Dad die Zeitung zusammen und dreht sie immer wieder in den Händen, eine seiner beliebten Ich-denk-nach-Posen. Fast noch mehr, als krank zu sein, hasse ich es zu beobachten, was mit meinen Eltern passiert. Das ist alles meine Schuld.
Mack sagt, ich solle mir keine Sorgen machen, seine Eltern stritten die ganze Zeit. Aber vor dieser Sache war es so, dass, wenn meine Eltern stritten, es schon vorbei war, ehe es richtig angefangen hatte. Danach, manchmal noch am selben Tag, manchmal am nächsten Morgen, fingen sie schon wieder an, sich zu necken, wobei sie auf eine Weißt-du-noch-Weise über alles lachten, als wäre es ein Erfolg und kein Versagen, sich zu streiten und ohne größeren Nachteil wieder zu versöhnen. Der Prozess und die verdammte Leukämie haben sie in einen Abgrund gestürzt. Selbst ich kann sehen, dass sie darin versinken.
Moms Stimme klingt schneidend. »Der gesamte IQ aller Mitarbeiter des Jugendamts ist niedriger als mein Alter.«
»Vielleicht sollten wir Misty bitten, als Zeugin auszusagen.« Dad spricht direkt mit ihr. Mich haben sie schon wieder vergessen.
»Sie hat schon so viel getan.« Moms Stimme wird weicher. »Ich würd sie da ungern mit reinziehen.«
»Aber sie will doch helfen.«
»Ich weiß, aber ...«
»Frag sie wenigstens, Sylvie«, sagt Dad. »Nein kann sie immer noch sagen.«
»Sie hat nicht mal einen College-Abschluss«, erwidert Mom. »Die werden sie kreuzigen.«
Während dieses relativ friedlichen Intermezzos sammelt Nick seine Schulsachen ein und zieht sich zurück. Kein heimlicher Händedruck für mich – ich werde allein den Löwen im Kolosseum überlassen.
»Ich will mit dem Anwalt sprechen«, verkünde ich.
Meine Eltern atmen noch nicht mal ein. Einstimmig antworten sie: »Nein.«
»Ich kann trotzdem mit ihm sprechen«, entgegne ich. »Auch wenn ihr das nicht wollt.«
»Sie werden dich nicht lassen. Du bist zu jung.«
»Zu jung wofür?«, frage ich. »Zu jung, um zu sagen, was ich mit dem minimalen Rest meines Lebens anfangen will?«
»Du hast keine Erfahrung mit solchen Dingen.«
»Und ihr?«, frage ich. »Wie viele krebskranke Kinder habt ihr schon gepflegt? Wie viele habt ihr begraben?«
Mr Walker willigt ein, mit mir zu sprechen, aber nur unter der Bedingung, dass meine Eltern wegen der Interessenskollision eine Einverständniserklärung unterschreiben. »Wie kann es da eine Kollision geben?«, entrüstet sich Mom. »Er ist unser Sohn, wir wollen doch dasselbe!« Dad wiederholt flüsternd Mr Walkers Begründung, die derihm gerade am Telefon gegeben hat. Laut Aussage des großen Juristen Walker hätten verschiedene Menschen verschiedene Interessen, und es könnte eine Zeit kommen, in der ich etwas anderes für mich wollte als meine Eltern. Mr Walker besteht auf der unterzeichneten Erklärung. Als Mom Dad ein Zeichen gibt, einzuwilligen, ahne ich, dass es ihr allein um die hohen Kosten für die Handyminuten am Tage geht. Nachzugeben ist eigentlich nicht ihr Ding. Zwei Tage später unterschreiben sie die dreiseitige Erklärung, die Walker per Post geschickt hat. Mom schiebt mir die Unterlagen über den Tisch zu.
»Darf ich das etwa lesen?«
»Nein, einfach unterschreiben.« Dad ignoriert meinen Sarkasmus und wirft Mom einen Ich-regle-das-schon-Blick zu.
Also stelle ich keine einzige der Fragen, die mich nachts wach halten. Er faltet die Papiere und streicht über den Knick.
»Dein Termin ist morgen um eins.«
Mom fährt mich hin und entlässt mich mit zig Warnungen und Ermahnungen aus dem Auto. Mein Kopf ist so voll davon, dass ich mich kaum auf die Liste von Fragen konzentrieren kann, die ich
Weitere Kostenlose Bücher