Fänger, gefangen: Roman
ansteckend sein kann mit irgendwelchen Sachen, von denen sie nicht einmal wissen. Nach dieser Warnung sage ich Meredith, dass wir uns nicht mehr küssen dürfen. Sie hat noch siebzig Jahre vor sich. Aber als sie androht, nicht mehr wiederzukommen, falls ich damit ernst mache, weiß ich, dass ich das schon jetzt nicht überlebe.
»Na, gut«, sagt sie, »dann muss ich eben mit Leonard ausgehen. Vielleicht hatte er ja doch recht mit dir.«
»Warum – was hat der Mistkerl gesagt?«
»Das war ein Witz, Daniel. Beruhige dich.«
»Bitte, sei nicht sauer. Das ist auch für mich neu. Können wir darüber reden?«
»Reden ist zwecklos. Ich will keinen Freund, der mich nicht küssen will.«
»Ich habe nie gesagt, dass ich das nicht will.«
»Tja, dann wäre das ja geklärt. Und halt jetzt bloß die Klappe!« Sie setzt sich auf meinen Schoß und überzeugt mich.
14
Als ich nach der Grippe merke, dass ich immer noch nicht richtig schlucken kann, bekommt Dad Panik und besteht darauf, mich wieder zum Arzt zu bringen. Mom meint zwar, Miss T. könne das auch behandeln, aber er gibt nicht nach, also verbringe ich zwei Nächte im MCV, dem Medical College von Virginia. Es ist wie im Zoo.
Das MCV ist wie ein Krankenhaus, aber mit einer Medizin-Uni und mitten in der Innenstadt von Richmond, sodass ständig alle möglichen Patienten in die Notaufnahme strömen. Ein Kind mit Leukämie sitzt dann neben einem Zweijährigen mit Verbrennungen dritten Grades, weil es in kochend heißes Badewasser getaucht wurde, oder neben einem Ehemann, dessen Frau ihm gerade mit der Bratpfanne eins übergezogen hat. Richmond ist eine Großstadt. Und es heißt, sie sei die Stadt mit der höchsten Mordrate in den USA.
Trotzdem ist das MCV ein Krankenhaus, mit dem sogar Mom leben kann. Wie die Freiheitsstatue heißt es jeden willkommen. Sehr demokratisch, meint sie. Die Ärzte, die uns behandeln, absolvieren ihre Facharztausbildung. Sie sagen den richtigen Ärzten, was Sache ist, und nicht andersrum. Das ist okay für mich, weil ich die ganzen Internetartikel über AML gelesen habe und es so aussieht, als ob sich niemand wirklich damit auskennt. Ich hab sowieso nicht viel Hoffnung.
Sobald ich mit der Untersuchung durch bin, warten wir auf die Ergebnisse. Und warten. Und warten. Es ist unglaublich, dass es bei einer lebensbedrohlichen Krankheit eine Woche oder länger dauert, bis die Laborergebnisse da sind. Ich kann immer noch nicht schlucken, was bedeutet, dass ich nicht essen kann, was bedeutet, dass ich nicht alle Vitamineund Mineralstoffe kriege, die die Knochen stark machen und die Gehirnzellen versorgen. Mom ist sauer und hinterlässt dem Arzt jeden Tag böse Nachrichten. Ich träume von der Ernährungpyramide aus dem Kindergarten, von fester Nahrung aus allen Nahrungsmittelgruppen – von rotem Fleisch, Orangen, Käse, sogar Rosenkohl. Nur wenn ich an einen weiteren Milchshake denke, wird mir allmählich übel.
Nach einem übermäßig stürmischen Thanksgiving auf dem Hausboot, das dabei so sehr schwankt, dass keiner etwas essen kann, ziehen wir alle in eine Dreizimmerwohnung gegenüber dem Postamt, als Untermieter eines Professors vom Rappahannock Community College, der ein Sabbatjahr in Nairobi verbringt. Ich schlage im Lexikon nach. Nairobi ist die Hauptstadt von Kenia.
Dad versucht, ein Buch fertig zu bekommen, dessen Abgabetermin bereits verstrichen ist. Selbst ich merke, dass er langsamer ist als sonst.
»Sollten die ihn nicht an den Tropf hängen?«, fragt Mom, als sie denkt, ich wäre bei
Die Geister, die ich rief
vorm Fernseher eingeschlafen. Bill Murray ist wirklich ein lustiger hässlicher Kerl!
Früher hat er mir immer Hoffnung gemacht, dass sich eines Tages ein richtig nettes Mädchen in mich verlieben würde, so wie diese Claire, die in dem Film das Obdachlosenheim leitet. Jetzt, wo ich Meredith kenne, finde ich, Murray hat Claire nicht verdient, aber was bedeutet das für mich?
»Red, ich rede mit dir«, flüstert Mom.
Ich öffne die Augen nur zu schmalen Schlitzen, damit sie nicht merken, dass ich wach bin, und sehe, wie Dad das Manuskript beiseitelegt. Er versucht angestrengt zu lächeln, aber es funktioniert nicht.
»Wie war deine Frage, Sylvie?«
»Das war keine Frage«, erwidert Mom. »Ich finde, sie sollten Daniel künstlich ernähren. Wie lange kann er ohne Essen überleben?«
»Es sind jetzt vier Tage«, sagt Dad. »Er trinkt Milchshakes. Ich glaube, er ist okay.«
»Im Krankenhaus«, sagt Mom, »haben sie ihn
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