Fänger, gefangen: Roman
Gedanken, wie ich Meredith behandelt habe, wird mir noch viel übler als von der Grippe.
»Nein, das hast du falsch verstanden, mein Schatz«, korrigiert mich Mom. »Der Ehemann macht sich Sorgen über alles, was schiefgehen kann. Ein Kind zu bekommen, ist eine komplizierte Angelegenheit, beängstigend. Ich meine, heutzutage ist so eine Geburt viel weniger beängstigend, aber ... trotzdem ...«
Sie verliert sich definitiv in ihren Erinnerungen.
»War ich denn so, wie du es erwartet hattest?« Ich überlege krampfhaft, wie ich sie um das Handy bitten kann, ohne mein Dilemma wegen Meredith zu verraten.
»Na ja, wir hatten ja schon Joe bekommen«, antwortet Mom. »Also wussten wir ungefähr, was wir erwarten konnten. Trotzdem warst du ganz anders. Nicht so gierig, viel geduldiger. Aber von Anfang an neugierig. Sobald du stehen konntest, bist du rumgeklettert. Das hat Joe nie gemacht. Er musste immer nur quieken, und wir sind hingerannt.«
»Kein Wunder, dass ich so verkorkst bin.«
Als sie lacht, weiß ich, dass sie sich über meinen Humor freut. Sie sieht mir ins Gesicht, die Hand an meinem Ellbogen. Sie muss nicht besonders viel nachdenken, um zu wissen, was bei Kindern alles schiefgehen kann.
Beim Frühstück singt die ganze Familie
Happy Birthday
durch die Wand, um die Quarantäne aufrechtzuerhalten. Nick mit seiner Manchmal-Tenor-manchmal-Bass-Stimme schmettert die Standard-Solozeile »Und viele mehr«. Wonach er sofort die Tür aufreißt und mit Tränen in den Augen in die Kabine kommt. Er tritt von einem Fuß auf den andern.
»Tut mir leid«, bricht es aus Nick heraus. »Tut mir so leid, Dan. Entschuldige. Es kam einfach raus. Ich hab nicht nachgedacht.«
»Vergiss es, Kumpel.« Das ist, wenn man darüber nachdenkt, genauso dumm, wie wenn Leute »Kein Problem« sagen, wenn du sie um Hilfe bittest oder dich über was beschwerst.
Er kramt auf dem Schreibtisch herum, tauscht seine Jogginghose gegen Jeans und sieht zu mir. Ich liege unten in der Koje auf der Decke, zu müde, um darunterzuschlüpfen.
»Wo ist Mom?«, erkundige ich mich.
»Hinten in ihrer Kabine«, sagt Nick. »Sie und Dad streiten, ob sie den Arzt anrufen sollen oder die Bestatterin. Misty Underwood, meine ich natürlich.«
Es ist immer noch ein guter Witz, und wir müssen beide lachen.
Ich stütze mich auf einen Ellbogen. »Kannst du mir das Telefon bringen, Brüderchen? Ich muss dringend mit Meredith sprechen.«
»O ja, ganz bestimmt. Die hat ungefähr schon acht Mal angerufen. Hat aber keine Nachricht hinterlassen. Tatsächlich konnte sie kaum zwei Worte rausbringen mit ihrer Grippe.« Sein Grinsen ist so breit wie das Hausboot. Er ist ungeheuer stolz auf sich.
»Ja, ja, schon gut«, sage ich. »Mein brillantes Kerlchen von Bruder. Hör zu, Sherlock, ich brauche das Handy jetzt. Nicht nächstes Ostern.«
Auf Nicks Worte ist Verlass. Obwohl Dienstag ist und die Freiminuten erst ab sieben Uhr gelten, rufe ich Meredith an. Sie ist immer noch krank und geht nicht zur Schule. Ihre Mutter arbeitet. Nachdem ich ihr versprechen musste, gleich wieder anzurufen, lege ich auf und zähle bis hundertzwanzig, sodass es nach sieben ist. Wir reden eine halbe Stunde, dann kommt Mom, die Aufseherin, und sagt, ich solle mich verabschieden.
Nachdem sie mich wieder in Nicks Koje verfrachtet und zugedeckt hat und alles, legt sie prüfend den Handrücken auf meine Stirn. »Ich schätze, Meredith ist mehr als nur eine gute Freundin?«
Ich kann nicht anders, ich muss einfach grinsen.
»Ich hab ihre Mutter zufällig in der Bücherei getroffen«, erzählt mir Mom. »Sie sagte, die Mädchen fahren dieses Jahr an Thanksgiving vielleicht zu ihrem Vater. Anscheinend wechseln sie sich immer ab.«
»Meredith hat ihren Vater noch nie erwähnt.«
»Das ist traurig.«
Stimmt. Was gibt es noch alles, das ich nicht von ihr weiß? Das ist sogar noch trauriger als Holden, wie er zu Phoebe ins Zimmer schleicht und nur flüstert, damit seine Eltern ihn nicht entdecken und Zoff machen, weil er von der Pencey geflogen ist. Er begreift nicht mal, dass es sogar besser ist, einen Vater zu haben, der Ärger macht, als gar keinen.
Mom zieht die Decke noch einmal zurecht und schließt die Fensterklappen. »Noch ein Nickerchen, dann hast du nachher vielleicht Appetit auf Abendessen.«
Ich warte, bis sie weg ist, ziehe das Handy unter dem Kissen hervor – sie hat es ganz vergessen – und rufe Meredith an.
»Daniel«, sagt sie sofort.
»Ich wollte dir noch was
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