Fahrenheit 451
ausgestreckt. An der äußersten Spitze des Mittelfingers bemerkte er nun eine feine schwarze Spur, wo der Reifen ihn gestreift hatte. Ungläubig besah er sich die geschwärzte Stelle, als er wieder aufstand.
Das war nicht die Polizei, dachte er.
Er sah die Straße entlang, die jetzt wieder leer war. Jugendliche verschiedenen Alters, was wußte er, von zwölf bis sechzehn Jahren, hatten auf ihrer lärmig-fröhlichen Ausfahrt einen Mann gesehen, etwas höchst Außergewöhnliches, einen gemütlich schlendernden Fußgänger, eine Kuriosität, und hatten einfach gesagt: »Den holen wir uns«, ohne zu ahnen, daß es der gesuchte Guy Montag war, nur ein paar Jugendliche, die auf einer nächtlichen Spritzfahrt einige siebenhundert oder achthundert Kilometer hinter sich brachten, die Gesichter eiskalt vom Wind, um dann in der Frühe nach Hause zu kommen oder nicht, noch am Leben zu sein oder auch nicht, je nachdem, darin bestand der Kitzel.
Umgebracht hätten sie mich, dachte Montag, während er schwankend dastand, in der noch immer aufgewühlten Luft, und sich die Quetschung an der Wange befühlte. Ohne irgendeinen Grund hätten sie mich umgebracht.
Er schritt der andern Straßenseite zu, mußte aber jedem der beiden Füße einen gesonderten Marschbefehl geben. Irgendwie hatte er auch die verstreuten Bücher wieder aufgehoben, ohne daß er gewußt hatte wie und wann. Er schob sie von der einen Hand in die andere, als wären es Pokerkarten, aus denen er nicht klug wurde.
Ich möchte bloß wissen, ob es dieselben waren, die Clarisse umbrachten?
Er blieb stehen, und die Frage widerhallte laut in seinem Innern.
Ob es wohl dieselben waren, die Clarisse umbrachten?
Am liebsten wäre er ihnen schreiend nachgerannt.
Tränen traten ihm in die Augen.
Was ihn gerettet hatte, war der Umstand, daß er hinfiel. Als der Fahrer ihn am Boden liegen sah, hatte er offenbar befürchtet, der Wagen könnte sich überschlagen, wenn er bei dieser Geschwindigkeit über einen daliegenden Körper fahre. Wäre Montag noch ein aufrechtes Ziel gewesen ...?
Es verschlug ihm den Atem.
Ein gutes Stück weiter die Straße entlang hatte der Wagen gebremst, auf zwei Rädern kehrtgemacht, und raste nun wieder heran, schräg über die falsche Straßenseite, mit zunehmender Geschwindigkeit.
Aber Montag war weg, geborgen in der dunklen Seitenstraße, nach der er sich aufgemacht hatte, war es vor einer Stunde oder vor einer Minute gewesen? Bibbernd stand er da, warf einen Blick zurück und sah den Wagen vorüberflitzen, schleudernd die Straßenmitte gewinnen, quirliges Gelächter um sich in der Luft, weg.
Nachher, als Montag im Dunkeln weitertappte, sah er die Hubschrauber herabschweben, ringsum herabschweben, wie die ersten Schneeflocken des langen Winters, der ihm bevorstand ...
Das Haus war still.
Montag schlich sich von hinten heran, durch dichten, nachtfeuchten Duft von Narzissen und Rosen und betautem Gras. Er faßte nach der Hintertür, fand sie unverriegelt, schlüpfte hinein und ging horchend über den Flur.
Frau Black, schlafen Sie noch? Ich habe nichts Gutes vor, aber Ihr Mann hat es andern getan, ohne sich je zu besinnen. Und da Sie die Frau eines Feuerwehrmannes sind, kommen Sie und Ihr Haus jetzt an die Reihe, für all die Häuser, die Ihr Mann niedergebrannt und all die Leute, die er dabei unbedenklich ins Verderben gestürzt hat.
Das Haus gab keine Antwort.
Er versteckte die Bücher in der Küche und schlich sich wieder hinaus ins Freie, und das Haus lag immer noch friedlich schlummernd da.
Auf seinem Weg durch die Stadt, über der die Hubschrauber wie Papierfetzen schwirrten, erstattete er Anzeige, von einer einsamen Fernsprechzelle aus, die vor einem nachtsüber geschlossenen Laden stand. Dann blieb er in der nächtlichen Kühle stehen und wartete, bis er in der Ferne die Feuersirene aufheulen hörte und den Salamander, der kam, um Blacks Haus, während er Dienst hatte, niederzubrennen und Blacks Frau verzweifelt in der Frühe stehenzulassen, während das Dach brennend in sich zusammenstürzte. Doch jetzt schlief sie noch.
Gute Nacht, Frau Black, dachte er.
»Faber!«
Noch ein Klopfen, ein leises Rufen und ein langes Warten. Dann, nach geraumer Weile, leuchtete in Fabers kleinem Haus ein kleines Licht auf. Nach einer weiteren Wartezeit öffnete sich die Haustür.
Sie musterten einander im Helldunkel, Faber und Montag, als glaube keiner an das Vorhandensein des andern. Dann kam Leben in Faber, er streckte die Hand
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